Herr Quent, ist Deutschland in den vergangenen Jahren rechter geworden?

Ja und Nein. Der öffentliche Diskurs und die Parlamente sind nach rechts gerutscht. Und auch die Asylpolitik. Aber von einem allgemeinen Rechtsruck der ganzen Gesellschaft kann man nicht sprechen. Denn gleichzeitig waren die Deutschen nie so liberal und offen wie heute. Etwa beim Zuzug von Schutzsuchenden, das belegen Umfragen.

Woher dann die Erfolge der Rechtspopulisten?

Ein rechtes Potenzial hat es in Deutschland schon immer gegeben: Schon 1981 hatten 13 Prozent ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Für die Parteienlandschaft war das Jahr 2016 mit den Wahlerfolgen der AfD eine Zäsur, mit der in den Parlamenten repräsentiert wird, was schon immer da war. Die Gesellschaft hat sich polarisiert.

Inwiefern?

Es gibt eine Polarisierung bei der für die radikale Rechte konstituierende Einwanderungsfrage, sie zeigt sich aber auch an anderen Streitpunkten wie Geschlechtergerechtigkeit oder Klimapolitik. Das betrifft auch die Medien: Allerdings ist das Vertrauen in die Medien nicht zurückgegangen, die Meinungen haben sich nur polarisiert in Ablehnung und Zuspruch. Die Unentschiedenen werden weniger.

Die AfD hat sich die Flüchtlingskrise zunutze gemacht. Warum springen gefühlt immer mehr Deutsche auf die Botschaft der Angst an?

In der Debatte um Fluchtmigration kulminieren verschiedene Kränkungen von einst gelernten, aber heute überholten Ansprüchen: Ansprüche der Homogenität, des Nationalismus und der autoritären Kontrolle. Die damit einhergehenden Verunsicherungen beutet die AfD völlig schamlos aus und heizt sie an. 2016 war der Topfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat und zu den Wahlerfolgen der AfD führte. Das entfesselte reaktionäre Potenzial wird seitdem in einem Zustand der Dauerempörung gehalten.

Alice Weidel machte Merkels Willkommenskultur sogar für die Tat eines Mannes am Frankfurter Bahnhof verantwortlich, obwohl er in der Schweiz lebte. War das reines Kalkül der AfD?

Das ist nicht nur Kalkül, sondern Strategie. Propaganda, um eine Situation herbeizureden, in der sich Deutschland in einer akuten Bedrohungslage befände und extreme Maßnahme nötig seien. Es geht nicht um die Vorfälle, die natürlich tragisch sind, sondern darum, den Menschen Angst zu machen und zu suggerieren, sie stünden vor einem Untergang, wenn nicht etwas passiert. Die AfD präsentiert sich dann als die Kraft, die diesen Untergang abwenden kann. Das ist eine Form von Propaganda, die darauf baut, Verunsicherungen auszunutzen und voranzutreiben.

Kürzlich hat ein Mann versucht, einen Eritreer auf offener Straße zu erschießen. Wird rassistisch motivierte Gewalt eher toleriert?

Die Gefahr gewaltsamer Radikalisierungen ist gewachsen, weil die öffentliche Stimmung aufgeheizt ist. Nicht nur die AfD, sondern auch die Bildzeitung erweckt den Eindruck, dass eine existenzielle Bedrohung besteht, gegen die der Staat nicht mehr ankommen würde. 2015 und 2016 ist die Zahl der Gewalttaten von rechts außen enorm gestiegen – oft begangen durch Leute, die vorher nicht im Zusammenhang mit Rechtsextremismus polizeibekannt waren. Inzwischen ist die Zahl wieder deutlich zurückgegangen, aber sie liegt noch deutlich über den Durchschnitten vor 2015. Grundsätzlich gab es aber immer schon massive rechte Gewalt.

Woran denken Sie da?

Zum Beispiel an die NSU-Mordserie, die damals nicht erkannt wurde. Auch in den 1990er und 1980er Jahren gab es zahlreiche Todesopfer durch rechte Anschläge. Aber Politik und Öffentlichkeit haben weggesehen und zugelassen, dass sich diese Strukturen etablieren und professionalisieren.

Man hat den Eindruck, dass der Hass gegen viele Institutionen wächst – von Politikern über Medienvertreter bis hin zu Rettungskräften. Woher diese Wut?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Aber wir brauchen auch nicht so zu tun, als ob das etwas Neues ist. Denken Sie an die Chaostage der 80er und 90er Jahre, die zu Gewalt und Zerstörung führten. Heute sind es wutentbrannte Freibadbesucher, die gewalttätig werden. Aber gewaltaffine Jugendliche, gerade Männer, gab es schon immer. Das hat nichts mit der Herkunft zu tun. Es sind sicher besorgniserregende Entwicklungen, aber im Kern keine neuen. Solche Vorfälle werden politisch genutzt und skandalisiert, nicht nur von Rechts, um einen starken Staat zu fordern und Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte zu rechtfertigen. Diese Wut ist sicher auch das Ergebnis einer Individualisierung von einem ganz extremen Narzissmus und Egoismus, in dem sich jeder selbst am nächsten steht und dann eben auch Rettungssanitäter angreift, wenn die einem im Weg stehen.

Die Wut wird auch von Leuten wie Björn Höcke angestachelt. Wie gefährlich ist sein rechter „Flügel“ innerhalb der AfD Ihrer Auffassung nach?

In Ostdeutschland ist der Flügel die AfD, die AfD ist der Flügel. Auch in den alten Bundesländern kann gegen den Flügel nichts mehr Wegweisendes entschieden werden. Der Flügel prägt die AfD ganz entscheidend. Er ist klar protofaschistisch, die Wurzeln dafür liegen in den 20ern. Er fußt auf jener antiliberalen rechtsradikalen Politik, die dem Faschismus den Weg bereitet hat. Heute gibt es viele Präfaschisten in der AfD. Was den Flügel so stark macht, ist, dass er im Gegensatz zum gemäßigteren Teil der AfD langfristige Konzepte hat und damit massiv ideologisiert.

Der Flügel hat einen langfristigen Plan?

Das hat der Flügel in der Erfurter Resolution deutlich gemacht. Er will den Umsturz, ein anderes Land, das sein Heil für die Zukunft in der Vergangenheit sucht. Der Höcke-Flügel und seine Wegbereiter der sogenannten Neuen Rechten stehen in Tradition antidemokratischer Kräfte der 20er Jahre. Eine Gesellschaft nach deren Vorstellung ließe sich nur als faschistische Ordnung umsetzen.

Ist Björn Höcke rechtsradikal? Oder reitet er nur auf der Welle des Rechtsextremismus? Wie gefährlich ist er?

Er ist ohne Zweifel rechtsradikal und ich halte ihn für sehr gefährlich: weil er derjenige ist, der in Vermischung von Narzissmus und ideologischem Sendungsbewusstsein die faschistische Ideologie in über die AfD in die Gesellschaft trägt. Zum Flügel gehören auch der Brandenburger AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz und der sächsische Spitzenkandidat Jörg Urban. Sie alle haben die Radikalisierung planvoll vorangetrieben, ohne dass die AfD in der Wählergunst darunter leidet.

Gerade im Osten kam es immer wieder zu Techtelmechteln mit der Pegida. Welche Rolle spielt die Pegida inzwischen im Osten Deutschlands?

Pegida war vor allem eine Dresdner Bewegung. Auf den ersten Blick war sie nicht als rechtsradikal erkennbar, weil sie von einer Bürgerbewegung getragen wurde. Die Pegida-Ableger waren jedoch schnell identifizierbar von Nazis getragen. Das war auch der Grund, dass sie in Dresden mobilisieren konnte, aber in anderen Städten nicht. Heute ist die Bewegung nahezu versiegt, weil sie in der AfD parlamentarischen Ausdruck gefunden hat. Dafür war der sogenannte Trauermarsch im vergangenen Jahr in Chemnitz ein Fanal. Es gab einen offenen Schulterschluss zwischen dem Dritten Weg, Neonazis, der Identitären Bewegung und Vertretern der AfD.

Die Identitäre Bewegung wird vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft. Wie gefährlich sind solche über das Netz formierte Gruppen?

Die Identitäre ist gefährlich, weil das, was sie propagiert, zu Gewalt führen kann. Die Bewegung distanziert sich zwar von Gewalttaten, aber propagiert den drohenden Untergang der Zivilisation durch die Verschwörungsvorstellung vom „großen Austausch“. Auch der Schütze in El Paso bezog sich in seinem Manifest auf dieses Narrativ. Diese Denkweise, die der Norweger Attentäter Andreas Breivik zuerst propagierte, war die Basis für die Identitäre Bewegung. Gewalt ist darin angelegt: Der Umsturz zu einer homogenen Gesellschaft lässt sich gar nicht anders umsetzen.

Ist der Dritte Weg ähnlich einzustufen?

Der Dritte Weg distanziert sich nicht einmal von Gewalt. Er steht offen zum Nationalsozialismus, während die „Neue Rechte“ sich davon distanziert und stattdessen weniger verrufene, antidemokratische Traditionen anruft. Deshalb spricht der „Dritte Weg“ auch eher das Milieu weniger Gebildeter, klassischer Neonazis an. Politisch ist er aber weniger gefährlich als die Identitäre Bewegung, die mit ihrem hippen Auftreten durchaus in der Lage ist, Zustimmung für sich zu erzeugen.

Apropos Nationalsozialismus. Spielen Skinheads heute noch eine Rolle in der Neonaziszene?

Die Skinhead-Subkultur spielt heute kaum noch eine Rolle für die Jugend, eigentlich schon seit 15 Jahren nicht mehr. Die Skinheads der 90er haben kaum noch Nachwuchs. Sie sind Teil der Normalität geworden, haben Familie, einen anerkannten Beruf – allerdings oft ohne ihre politische Ideologie abgelegt zu haben. Sie treten oft nicht mehr so offen in Erscheinung wie früher. Allerdings ist genau das das Milieu, aus dem der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke stammt.

Terroranschläge in der Welt nehmen gefühlt zu, aber islamistisch motivierte Taten scheinen größere Aufmerksamkeit zu erregen als Attentate wie jüngst in den USA. Wie erklären Sie sich das?

Wahrnehmung von Terrorismus ist unmittelbarer geworden. Einerseits ist man durch die Medien – auch die sozialen Netzwerke – näher dran. Die Bedrohung wirkt allgegenwärtig, obwohl Deutschland und Europa schon viel blutigere Zeiten hinter sich hat. Anschläge in Syrien mögen an der Tagesordnung sein, in Europa sind sie statistische Einzelfälle, die im Hinblick auf die Todesgefahr im Vergleich zu Autounfällen oder zu multiresistenten Erregern in Krankenhäusern zu vernachlässigen sind. Aber die Erregbarkeit des Menschen, bestärkt durch Propaganda auch durch die AfD, die jeden Vorfall bis ins Pauschalisierende aufgreift und benutzt, macht uns anfällig. Weil man dadurch das Gefühl hat, dass die eigene Gruppe angegriffen wird.

Wird rechter Terror in Deutschland kleingeredet?

In Deutschland gibt es eine Tradition der Annahme, dass Terrorismus immer von links kommt oder islamistisch motiviert ist. Bis zu den NSU-Morden wurde der Terror von rechts kaum als solcher benannt. Islamistischer Terror wird häufig höher gehängt, dabei ist die Gefahr von rechtem Inlandsterrorismus ungleich größer, schon weil die Zahl der potenziellen Täter viel höher ist. Aber dieser Terror trifft meist Minderheiten – und Politik und Öffentlichkeit nehmen sich nicht als angegriffen wahr.

Was hat die Politik versäumt, um das Erstarken rechter Kräfte zu verhindern?

Man hat nicht auf die Signale gehört, die von Aktivisten, Betroffenen, aber auch Forschung seit Jahrzehnten immer wieder gesendet werden. Rechtsextreme Gruppen, die auf die Abschaffung des Systems zielen. Ausländerfeindliche Kampagnen, die den „Volkstod“, den „Genozid an den Deutschen“ und ähnlichen Unsinn propagierten – das alles gab es schon in den 80er Jahren. Was es braucht, ist nicht nur die Sensibilisierung im Geschichtsunterricht, sondern auch die aktuelle Aufklärung und aktives Dagegenhalten. Der deutsche Verfassungsschutz ist leider kein Frühwarnsystem, das hat sich auch bei der Identitären Bewegung gezeigt. In Österreich ist sie schon seit 2013 als rechtsextremistisch eingestuft – in Deutschland dagegen erst seit vier Wochen.