Sarah rutscht unruhig auf dem beigen Polsterstuhl in Dagmar Habisreuthers kleinem Büro herum. Die junge Frau aus Eritrea weiß gar nicht, wo sie anfangen soll. Tränen kullern über das zarte Gesicht der 23-Jährigen.
Die Sozialpädagogin mit den grauen Locken hört zu, nickt mitfühlend. Seit dem Krisenjahr 2015 ist sie in der Flüchtlingssozialarbeit aktiv. Die 57-Jährige arbeitet als Integrationsmanagerin für die Diakonie in Überlingen und betreut Flüchtlinge.
Sarah hat sich ihre einen Monat alte Tochter mit einem Tuch vor die Brust gebunden, die Kleine schläft selig, während die zierliche Frau Papiere aus ihrem großen Rucksack hervorkramt. Es ist die Sozialversicherungsnummer für ihr Baby. Sarah weiß damit nichts anzufangen, Habisreuther muss es ihr erklären.
Die Eritreerin bemüht sich, das deutsche System zu verstehen – mit all seiner Bürokratie. Sie ist vor drei Jahren mit ihrem Mann nach Deutschland gekommen, sie haben zwei Kinder. Ein Ehepaar hat die Familie aufgenommen, sie bekommt ein Stockwerk im Haus – ohne Tür. Das sorgt für Probleme.

Eigene vier Wände
Die junge Familie sucht händeringend nach einer neuen Wohnung. Aber Wohnraum ist knapp in Überlingen. Und Bran, ihr Mann, verdient als Hilfsarbeiter bei einem Busunternehmen nicht allzu viel. Früher war er Busfahrer, in Eritrea. Aber hier gibt es zu viele Hürden: Er müsste eine Fahrprüfung machen, Deutsch beherrschen.
Sarah zeigt der Integrationsmanagerin den Screenshot einer Wohnungsannonce auf dem zersplitterten Bildschirm ihres Smartphones. „Wo ist das“, fragt Sarah. Sie vertraut Habisreuther, spricht sie mit Dagmar an. „Ihr müsst einen Brief schreiben“, erklärt ihr Habisreuther. Sarah wehrt ab: „Das kann ich nicht.“ Sie spricht gebrochen Deutsch, aber schreiben – das traut sie sich nicht zu.
Habisreuther lässt sich erweichen: Sarahs Fall betreut sie schon lange, die junge Familie ist ihr ans Herz gewachsen. Die Diplomsozialpädagogin kann sie nicht auflaufen lassen. „Also gut, ich schreibe gleich eine E-Mail, der Vermieter soll sich dann bei mir melden“, beruhigt sie Sarah.
Kündigungsfristen und doppelte Mieten
Aber dann wäre da noch die Sache mit der Kündigungsfrist. Wieder blickt sie Sarah verständnislos an. Habisreuther erklärt, dass man erst eine Kündigung aussprechen muss, dass man nicht einfach so ausziehen kann. „Manchmal muss man auch doppelte Miete bezahlen, selbst wenn man in der alten Wohnung nicht mehr wohnt.“ Sarah ist schockiert: „Das geht nicht“, sagt sie verzweifelt.
Wieder beginnt sie zu weinen. Sie ist wütend und verletzt zugleich. Weil sie das helfende Ehepaar zwar schätzt und die beiden auch hilfsbereit sind, mal auf den kleinen Sohn aufpassen. Doch „Oma und Opa“, wie sie die beiden nennt, haben eben auch Ansprüche. Die Kehrwoche zum Beispiel. Doch wenn Bran von der Arbeit kommt, trägt er eben auch Dreck mit ins Haus.
Und Sarah hat mit den beiden kleinen Kindern alle Hände voll zu tun. „Ich habe viele Worte gehört“ sagt sie und meint, dass sie beschimpft wurde. „Ich will wieder zurück nach Deisendorf„ sagt Sarah. Sie spricht von der Gemeinschaftsunterkunft. Aber dort dürfen Flüchtlinge nur eine bestimmte Zeit leben.
Wenn sie anerkannt sind, müssen sie sich eine eigene Unterkunft suchen. Wem subsidiären Schutz gewährt wird, müssen die Flüchtlinge die Unterkünfte, die der Landkreis stellt, verlassen. Dann sind die Kommunen gefordert, denen die Hilfesuchenden zugewiesen werden.
Notunterkünfte oft belastend für Bewohner
„Diese Notunterkünfte sind von unterschiedlichster Couleur“, umschreibt es Habisreuther diplomatisch. Da kann es schon mal passieren, dass eine große Familie in einer viel zu kleinen Wohnung landet, es keine separaten Zimmer gibt. Das wird besonders schwierig, wenn fremde Menschen plötzlich gemeinsam in einer Wohnung untergebracht werden.
„Ich sage ihnen dann immer: Deutschland gibt euch eine Wohnung.“ Was Habisreuther meint, ist, dass die Erwartungshaltungen manchmal nicht zur Realität passen. „Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die selbst verantwortlich sind“, betont die Sozialpädagogin.
Zu viel abnehmen darf und will sie ihnen nicht. Bewerbungsschreiben für einen Job sollen die Flüchtlinge erst einmal selbst aufsetzen. Mit dem Feinschliff hilft Habisreuther dann gerne – nur die Initiative, den ersten Schritt, den erwartet sie von den Menschen selbst.
Es sind diese Alltagssorgen, mit denen Habisreuther ständig zu tun hat. „Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe an“, erklärt sie ihre Aufgabe. Die Flüchtlinge sollen lernen, sich im Papierwust deutscher Behörden zurechtzufinden. Ob es nun um einen Antrag für Arbeitslosengeld II geht, zu welchem Amt man gehen muss, um einen Sozialpass zu beantragen oder wie man eine neue Adresse meldet.
Verträge sind Verträge
Doch häufig scheitert es am Grundverständnis, dass Verträge Verbindlichkeiten mit sich bringen. „Sie verstehen oft nicht, dass Verträge weiterlaufen, auch wenn sie sie nicht mehr nutzen“, sagt Habisreuther. Mobiltelefonverträge, Fitnessstudios oder eben ein Mietvertrag. „Oft sind sie überfordert“, sagt die Sozialpädagogin.
Das größte Problem liegt nach wie vor in der Sprachbarriere. „Das ist unser Dauerthema“, sagt die Integrationsmanagerin etwas resigniert. Wer als Flüchtling anerkannt ist, subsidiären Schutz genießt oder für wen es ein Abschiebeverbot gibt, ist in der Regel gehalten, einen Kurs zu besuchen. Teilweise sind die Betroffenen aber Analphabeten.
Das Prinzip des Lernens, dass Dinge aus dem Unterricht zu Hause nachbereitet werden sollten, kennen einige nicht. Oft scheitert der Kurs aber auch an mangelnden Plätzen. Oder, weil die Flüchtlinge ihn selbst bezahlen sollen – etwa, wenn sie abgeschoben werden sollen, wegen eines Gerichtsverfahrens aber noch bleiben dürfen. Aber auch jene, die sich bemühen, brauchen Zeit. „Der Integrationsprozess dauert zwischen sechs und zehn Jahren“, sagt Habisreuther.
Zwischen Euphorie und Erwachen in der Wirklichkeit
Auf die Euphorie, es bis nach Deutschland geschafft zu haben, folgt oft der harte Aufprall – das Erwachen in der Wirklichkeit. Dass einem die Dinge nicht in den Schoß fallen, man sich hier aktiv um Arbeit bemühen muss, zum Beispiel. Oder auch, dass Selbstständigkeit hier vielen Regeln unterworfen ist, man nicht einfach loslegen kann.
„Deutschland ist extrem geregelt, das macht oft große Probleme.“ Die Unterstellung, dass Flüchtlinge nicht arbeiten wollen, lässt sie nicht gelten. „Aber viele haben eben selbstständig gearbeitet, waren ihr eigener Chef. Sie sind es nicht gewöhnt, Anweisungen zu bekommen“, erklärt Habisreuther.
Auf dem Schreibtisch steht eine Box mit Taschentüchern. Sie schiebt sie Sarah zu. Die junge Frau packt ihre Sachen zusammen, schnieft. Habisreuther umarmt sie zum Abschied. Es ist ihr Dilemma – das mit dem Abstandhalten, Distanz zu wahren zu ihren Fällen, die eben Menschen sind und keine Objekte.
„Ich versuche mich abzugrenzen“, sagt Habisreuther. Sie muss sich selbst schützen. Zu viel weiß sie über die Schicksale mancher Familien. Lässt sie zu viel Nähe zu, wird die emotionale Belastung irgendwann zu groß.
Emotionaler Job
Manchmal kann sie aber nicht anders: wie bei einer Familie aus dem syrischen Idlib, die in Deisendorf lebt. Habisreuther kennt sie seit drei Jahren. Die Integrationsmanagerin kommt vorbei, um Papierkram mit den Eltern zu besprechen.
Die Kinder sprechen fließend Deutsch, die beiden ältesten besuchen die Realschule: Ragib (13), Ragat (12), Noori (10), Rania (6) und Inas (2). Das kleine fröhliche Mädchen hat schon viel durchgemacht, wurde mit einer Zwerchfellhernie und einem Herzfehler geboren, jährlich muss sie zur Kontrolle. Trotzdem flitzt sie durchs Wohnzimmer, spielt: „Ene mene miste, es rappelt in der Kiste.“
Für Vater Saif (37) ist es schwieriger mit dem Ankommen. Der frühere Polizist kann mit seiner beruflichen Qualifikation hier nichts anfangen. Er will Arbeit finden, egal was. Doch er scheiterte an der Sprachprüfung des von Arbeitgebern häufig geforderten Niveaus B1. Er will es noch einmal versuchen.
Mutter Rajaa (33), die wegen den langen Klinikaufhenthalten ihrer Jüngsten keinen Sprachkurs besuchen konnte, muss das nun dringend nachholen. Sonst könnte sie Probleme bekommen mit den Auflagen der Behörden, am Ende droht sogar eine Einschränkung der Aufenthaltserlaubnis. In wenigen Tagen geht Habisreuther mit ihr zum Einstufungstest für den Sprachkurs.
Rückkehr nach Syrien praktisch ausgeschlossen
Eine Rückkehr nach Idlib ist ausgeschlossen. Das Leben, das die Familie dort führte, gibt es nicht mehr. Die Bomben, die dort einschlugen, kosteten Rajaa fast das Leben. Der damals dreijährigen Rania musste ein Splitter aus dem Kopf operiert werden.
Die Familie flüchtete über die Türkei, wagte die gefährliche Reise mit dem Boot übers Mittelmeer nach Griechenland, wanderte durch Mazedonien, Kroatien, Slowenien und Österreich bis nach Deutschland. „Der Krieg wird noch dauern“, glaubt Saif. Das Bleiberecht der Familie wurde gerade verlängert. Die Kinder beginnen ihre Muttersprache Arabisch zu vergessen. Deutschland ist ihre neue Heimat.