Herr Strasser, welche Strategie fährt die Bundesregierung mit Blick auf IS-Rückkehrer?
Die Bundesregierung und besonders ihr Innenminister haben keinen richtigen Plan. Ich habe den Eindruck, dass man diese Leute am liebsten möglichst lange in Syrien und dem Irak sitzen lassen will. Eine schlüssige und vor allem auch mit den Bundesländern abgestimmte Strategie fehlt bis heute.
Wie erklären Sie sich das? Es sollte doch im Interesse der Bundesregierung sein, diese Menschen hier vor ein Gericht zu stellen.
Bei diesen IS-Kämpfern geht es um deutsche Staatsbürger, die vor deutsche Gerichte gestellt gehören. Wenn wir von anderen Staaten zu Recht erwarten, dass sie kriminelle Landsleute zurücknehmen, müssen wir das Gleiche auch mit Deutschen tun.
Aber was kommt danach? Welche Ansätze gibt es, die Radikalisierung „umzukehren“? Und funktioniert das überhaupt?
Das Angebot an Deradikalisierungsprogrammen ist sehr breit, die Rezepte dafür sehr unterschiedlich. Ich denke, dass auch Ansprechpartner aus muslimischen Gemeinden nötig sind, damit die Botschaft bei den ehemaligen IS-Kämpfern auch ankommt und annehmbar wird. Ein Nicht-Muslim würde zu diesen Menschen wahrscheinlich kaum durchdringen.
In vielen Fällen gibt es ja auch Kinder, die dort geboren wurden. Wie bei der Konstanzer IS-Rückkehrerin Sarah O., der im Oktober vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf der Prozess gemacht wird. Welcher Umgang ist Ihrer Meinung nach der richtige?
Wenn es die Chance gibt, die Kinder aus der Familie zu nehmen, ist das sicher der beste Weg. In jedem Fall ist es nötig, die Familien zurückzuholen und die Eltern vor Gerichte zu stellen.
Sie sitzen im Untersuchungsausschuss, der sich mit den Fehlern der Ermittlung im Fall Anis Amri auseinandersetzt. Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gewonnen?
Auch wenn ein Ende bislang nicht absehbar ist, ist eines schon glasklar: Anis Amri war kein Einzeltäter, wie die Sicherheitsbehörden und Bundesregierung gerne behaupten. Wir wissen, dass er mit dem harten Kern der europäischen Salafistenszene in engem Kontakt war – etwa mit dem IS-Statthalter in Deutschland, Abu Walaa. Seine Anschlagsplanung hat Amri mit anderen Islamisten in Berlin seit dem Frühjahr 2016 aktiv vorangetrieben – unter anderem in der Berliner Fussilet-Moschee, in der Verfassungsschutz und Berliner Behörden Quellen hatten. Diese wollten wohl erst einen Sprengstoffanschlag auf ein Einkaufszentrum am Bahnhof Gesundbrunnen begehen. Der Anschlag mit einem Lkw war nur der schreckliche Plan B.
Seitdem ist viel passiert – auch an der Spitze des Verfassungsschutzes. Was halten Sie vom neuen Chef?
Thomas Haldenwang ist ganz anders drauf als Hans-Georg Maaßen. Er hat erkannt, dass Terroristen und Extremisten häufig in Netzwerken aktiv sind. Amri hat ein regelrechtes Hopping zwischen islamistischen Zirkeln in verschiedenen Bundesländern betrieben, ausgelotet, wen er für seine Sache gewinnen kann. Wegen der ständigen Wechsel wurde er auch immer wieder ein- und ausgetragen in der Gefährderkartei einzelner Bundesländer. Bei solchen hochmobilen Tätertypen stößt unsere föderale Struktur klar an ihre Grenzen.
Was ist die Lösung dafür?
Eine sinnvolle Maßnahme wäre ein europäisches FBI, das die polizeiliche Zusammenarbeit in der EU verbessert. So hätte man vielleicht früher Erkenntnisse über Amri, etwa aus Italien, mit dem Wissen der deutschen Behörden verbinden können.
Das funktioniert ja schon in Deutschland nicht, wie der Fall Amri zeigt…
Richtig! Die Behörden weisen auch heute noch darauf hin, dass formal immer jemand anderes zuständig war.
Aber es gibt doch das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum. Bringt das denn gar nichts?
Das GTAZ wurde ja nach den Anschlägen vom 11. September in New York konzipiert. Im Grunde ist es aber keine Behörde, sondern eher ein runder Tisch, an dem sogenannte anlassbezogene Fallbesprechungen stattfinden. Amri war mindestens elf Mal Thema im Anschlagsjahr 2016.
Wie kommt es dann, dass er ungehindert seinen Plan in die Tat umsetzen konnte?
Das GTAZ ist leider eine unverbindliche Sache mit nur sehr wenigen Vorgaben. Zum Teil finden sich dort Leute in Sitzungsprotokollen, die körperlich gar nicht anwesend waren. Amri wurde am 7. September 2016 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz in die Antiterrordatei eingetragen. Von der Berliner Polizei und im GTAZ wurde er zeitgleich nur noch als kleinkrimineller Drogendealer geführt. Offensichtlich wurden Informationen nicht weitergegeben.
Haben Sie eine Lösung für die offenkundigen Probleme nicht nur in diesem Fall, sondern auch um künftige Gefährder frühzeitig zu erkennen und an ihren Vorhaben zu hindern?
Eine Reform unserer föderalen Sicherheitsarchitektur und eine klare Rechtsgrundlage mit Regeln für das GTAZ sind überfällig. Wir brauchen weniger Behörden, die für mehr Sicherheit sorgen. Es muss klar sein, wer wann zuständig ist, welche Informationen fließen müssen und vor allem, wer am Schluss die Verantwortung für Entscheidungen trägt.
Auch Amri war ja im Visier der Behörden. Was ging schief?
Anis Amris Telekommunikation wurde vom Berliner LKA bis Juli 2016 überwacht, aber erst nach dem Anschlag vollständig ausgewertet, weil es nicht genug Beamte dafür gab. Ich halte deshalb auch Diskussionen über weitere, auch präventive Überwachungsbefugnisse für die Sicherheitsbehörden für falsch. Es ist heute schon schwer, die Nadel im Heuhaufen zu finden. Wir sollten den Haufen nicht noch größer machen.
Was muss gegeben sein, um die Arbeit des Verfassungsschutzes zu verbessern?
Vor allem mehr Personal, um vorhandene Informationen zeitnah auszuwerten sowie die Früherkennung radikaler und gewaltbereiter Strukturen zu verbessern. Vom Zugriff auf Messengerdienste und einer damit verbundenen Verpflichtung der Anbieter unsichere Software auf den Markt zu bringen, halte ich rein gar nichts. Alle europäischen Attentäter der letzten Jahre waren den Behörden im Vorfeld bekannt. Es mangelte sicher nicht an Informationen.
Zur Person
Benjamin Strasser, 32, ist FDP-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Ravensburg und Mitglied im Innenausschuss des Bundestags. Der gebürtige Weingartener trat 2006 der FDP bei, war von 2010 bis 2013 Mitglied des Landesvorstands der Jungen Liberalen in Baden-Württemberg. Seit November 2013 ist der Rechtsanwalt Mitglied im Landesvorstand der FDP. 2016 kandidierte er für den Wahlkreis Ravensburg für den Landtag und verfehlte den Einzug nur knapp. 2017 errang er ein Mandat für den Bundestag über die Landesliste.