Herr Palmer, zehn Jahre ist der Flüchtlingssommer 2015 her, als Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das“. Sie haben damals dagegengehalten. Wie sehen Sie‘s heute? Haben wir es geschafft?

Also, ich würde sagen, wohlwollend formuliert, haben wir zwei Drittel des Weges geschafft.

Immerhin. Lagen Sie also falsch?

Nein, das war trotzdem sehr wichtig, denn ich habe das zu dem Zeitpunkt gesagt, als den Städten und Gemeinden im Land täglich bis zu 10.000 neue Flüchtlinge überstellt wurden. Dieses Tempo war niemals durchzuhalten, darauf hat sich der Satz bezogen. Im Übrigen müssen wir auch festhalten, dass, wenn ein Drittel des Weges nicht geschafft ist nach zehn Jahren, ist es wirklich eine Riesenaufgabe.

Wo gibt es den größten Nachholbedarf?

Die Stichworte sind Wohnungsproblematik, Bildungsproblematik, Arbeitsproblematik. In all den Bereichen sind wir noch weit weg vom Ziel. Die große Mehrzahl der Geflüchteten wohnt weiterhin in öffentlich finanzierten und bereitgestellten Wohnungen. Nur bei den Männern gibt es eine gut ansteigende Erwerbsquote bei Jobs mit geringen Einkommen, bei den Frauen sind die Zahlen sehr schlecht. Deswegen zahlen wir im Jahr auch noch 30 Milliarden Euro für diese große Aufgabe, mittlerweile aus Schulden. Und die Bildungserfolge sind alles in allem sehr bescheiden. Vor allem aber sind jenseits der Gymnasien jetzt alle Schülerinnen und Schüler von einer abnehmenden Qualität des Bildungswesens, insbesondere des Schulwesens, betroffen.

Wir haben wirklich große Aufgaben, die wir nur bewältigen können, wenn der Neuzugang anhaltend niedrig bleibt. Es kommt also alles darauf an, den Zugang zu kontrollieren. Das war damals die Forderung, der sich die Kanzlerin monatelang entgegengestellt hat. Sie hat sogar bei Anne Will behauptet, es sei niemand in Deutschland möglich zu bestimmen, wie viele Menschen zu uns kommen. Diese Entmutigung war verheerend und hat auch die AfD zu dem gemacht, was sie ist. Nämlich aktuell stärkste Partei in den Umfragen.

Ist denn auch irgendwas gut gelaufen?

Ja, der Pakt mit der Türkei, zum Beispiel. Da hat Frau Merkel sich widerlegt – sie konnte doch etwas tun, um die Zugangszahlen drastisch zu reduzieren. Dann haben wir durch die Hilfsbereitschaft vieler, vieler Bürger, aber auch einer immensen finanziellen und personellen Kraftanstrengung Integrationskurse auf die Beine gestellt, Kitas gebaut, Sozialarbeiter eingestellt, Asylverfahren durchgezogen. Ja klar, wenn ich sage, Zweidrittel des Wegs sind geschafft, dann haben wir insgesamt viel bessere Ergebnisse erzielt, als ich sie 2015 befürchtet hab. Aber da musste ich ja auch davon ausgehen, dass die Zugangszahlen dauerhaft viel zu hoch bleiben.

Was bräuchten denn die Kommunen jetzt noch?

Vor allem brauchen wir jetzt Zeit, um das restliche Drittel des Weges zu gehen. Die Aufgaben können wir nur erfüllen, wenn nicht immer neue Leute hinzukommen. Deswegen sind die aktuell niedrigsten Zugangszahlen seit zehn Jahren die wichtigste Voraussetzung für den künftigen Erfolg. Darüber hinaus brauchen wir tatsächlich Geld. Wir müssen jetzt bei anderen Aufgaben sparen, um Flüchtlinge zu finanzieren. Ein besseres Programm zum Wachstum der AfD kann man sich gar nicht denken. Deshalb müssen Bund und Land in die Bresche springen und diese Kosten vollständig übernehmen.

Weiterhin großen Aufwand haben wir bei der Unterbringung der Geflüchteten. Aktuell sind wir in Tübingen mit drei großen Containerstandorten am Start, wo wir tatsächlich von mehreren Millionen Euro Investitionen ausgehen, von denen ich im Moment gar nicht weiß, woher ich die Kredite nehmen soll, um sie zu bezahlen, weil das Regierungspräsidium den Haushalt nicht genehmigt. Das sind große Aufgaben, die da vor uns stehen und bei denen wir Hilfe brauchen.

Die Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen finden Sie also richtig?

Das ist aus Sicht der Kommunen unabdingbar notwendig. Ich sage es gern zum dritten Mal: Nur wenn wir die Zugangszahlen jetzt wirklich unten halten, so tief wie sie jetzt sind, haben wir eine Chance, die Integration am Ende erfolgreich zu bewältigen. Und sie sind, wie sich zeigt, auch juristisch durchaus möglich. Jedenfalls werden sie schon seit Monaten erfolgreich durchgehalten, trotz eines anfänglich abschlägigen Urteils.

Ja, ich finde, das ist ein wirklich wichtiger Schritt, den Bundeskanzler Merz gegangen ist – der selbst auferlegten Untätigkeit und des Kontrollverzichts von Angela Merkel einen starken, handelnden Staat entgegenzustellen.

Wo schmerzen die Fehler der vergangenen Jahre am meisten?

Der Punkt, der der AfD am meisten in die Hände gespielt hat, war, dass man die Probleme mit der Integration vieler junger alleinreisender Männer – oft mit Gewalterfahrung traumatisiert und aus einem Kulturkreis, in dem Gewalt viel gegenwärtiger ist als bei uns – lange bagatellisiert und verharmlost hat. Die AfD konnte sich aufschwingen zum Hüter von Ordnung und Sicherheit, während andere das Thema tabuisierten. Deswegen war diese Sicherheitsfrage fatal. Wir haben tatsächlich auf Straßen und Plätzen eine Gewalt, die es vor zehn Jahren in dieser Form und Intensität nicht gegeben hat. Die gerade junge Menschen, die ansonsten weltoffen und tolerant aufgewachsen sind, dazu bringen, vermehrt der AfD ihre Stimme zu geben. Deswegen ist es zur Bekämpfung des Erfolgs der AfD unabdingbar notwendig, dass wir das Gewaltmonopol des Staates auch gegenüber Leuten durchsetzen, die es ganz offensichtlich nicht anerkennen wollen.

Wünschen Sie sich ein härteres Durchgreifen?

Ich finde, die Abschiebeflüge nach Afghanistan sind nicht nur ein wichtiges Zeichen, sondern elementar notwendig, um diesen Leuten zu zeigen, dass man in unserem Land nicht machen kann, was man will. Und ja, man sollte häufiger, frühzeitiger, härter intervenieren, weniger langmütig bei den Gruppen, von denen man empirisch weiß, dass sie das größte Risiko tragen, um zu Gewalttätern oder gar zu Attentätern zu werden. Mehr Aufmerksamkeit auf diese Klientel zu legen, wäre dringend notwendig und wurde lange durch den allgegenwärtigen Rassismusvorwurf in fahrlässiger Weise behindert.

Haben Sie eigentlich jemals mit Frau Merkel über das Thema gesprochen?

Nein, danach hatte sie keinen Wunsch, zumindest hat sie mir gegenüber den nicht geäußert. Als kleiner Oberbürgermeister bekommt man dafür dann auch umgekehrt keine Gelegenheit.