Es sind Fragen, an denen schon viele mächtige Menschen gescheitert sind: Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Amtsende in Würde, wann kippt Stärke in Schwäche und wann fallen Parteifreunde über einen her wie die Hyänen? US-Präsident Joe Biden hat diesen Moment um ein Haar verpasst, nur wenige Wochen und seine rund fünf Jahrzehnte währende, beispiellose politische Karriere wäre gemessen worden an seinem starrsinnigen Festhalten an einer erneuten Kandidatur.

So aber hat er gerade noch rechtzeitig den Weg frei gemacht für eine Chance der Demokraten im Kampf gegen den entfesselten Donald Trump.

Schwäche, die man nicht zugestehen darf

Biden ist in keiner guten Verfassung. Er stolpert auf der Bühne und stürzt, er leistet sich böse verbale Schnitzer und vergisst, angefangene Sätze zu vervollständigen. Das ist mehr als menschliche Verletzlichkeit, die einen Politiker manchmal auch sympathisch machen kann, das ist eine Schwäche, die man dem mächtigsten Amtsträger der Welt nicht zugestehen darf.

Unsichere Zeiten benötigen starke Anführer, zumal in einer polarisierten Welt, in der wir Zündlern, Lügnern und Hetzern gegenübertreten müssen. Donald Trump, der immer wieder auf dem Alter des 81-jährigen Joe Biden rumhackte, ist nun mit seinen 78 Jahren selbst der älteste Präsidentschaftskandidat der US-Geschichte. Eine Flanke, mit der die Wahlkampfstrategen Trumps nicht gerechnet hatten. Überhaupt macht sich im Lager der Republikaner Nervosität breit.

Typen wie Donald Trump kennt sie

Kurz nach dem Attentat waren Trumps Experten noch überzeugt, dass der Vorfall dabei helfen könnte, die Erzählung vom ewig verfolgten Opfer zu zementieren. Doch von den Schüssen redet kaum noch jemand. Denn wenige Tage nach dem Mordversuch sortierten sich die Demokraten neu, schoben Kamala Harris in die erste Reihe, inszenierten den Abgang Bidens und beherrschten damit die Schlagzeilen. Dabei ist ein Drehbuch gelungen, das den Demokraten niemand zugetraut hatte: das Drehbuch der Geschlossenheit und Ruhe – obwohl Kamala Harris durchaus umstritten ist.

Zunächst einmal ruhen aber große Hoffnungen auf ihr: Harris ist mit 59 Jahren eine junge Kandidatin, sie hat Migrationshintergrund, der Vater ist Jamaikaner, die Mutter Inderin. Sie ist gebildet und Juristin. Sie hat Erfahrung und Kampfkraft, war Staatsanwältin. Und sagt über diese Zeit, in der sie Sexualstraftäter, Betrüger und andere Leute anklagte: „Ich kenne mich aus mit Typen wie Donald Trump.“

Sie gilt als Charakter, der in die Zeit passt, der für Frauenrechte einsteht und für Minderheiten, der Anschluss hat an akademische Kreise. Mitbewerber um die Nachfolge Bidens haben deshalb den Weg schnell frei gemacht, weil sie spürten: Amerika ist reif für eine Präsidentin, für die erste Frau im Amt. Für diese Frau. Hillary Clinton hatte es 2016 ja auch versucht. Sie war aber wegen ihres miserablen und überheblichen Wahlkampfs gescheitert. Das ist Harris Mahnung genug, es wird ihr nicht passieren.

Zeit für mehr als 85 Minuten

Kamala Harris arbeitet seit dreieinhalb Jahren im Weißen Haus, sie hat ein überragendes Netzwerk und ist enge Beraterin Joe Bidens. Es ist in der Funktion der Vizepräsidentin angelegt, weitgehend im Verborgenen zu wirken und sich nicht in den Vordergrund zu spielen, das war bei ihren Vorgängern auch nicht anders.

Nur wollen Kritiker daraus jetzt einen Nachteil konstruieren, indem sie ihr Profillosigkeit und überschaubare Tatkraft unterstellen. Das ist billig und ein zahnloser Versuch, Kamala Harris als ungeeignet erscheinen zu lassen.

Einen wunden Punkt hat sie allerdings: den der illegalen Zuwanderung. Joe Biden hatte ihr die Aufgabe übertragen, die Zahlen spürbar zu senken – sie sind aber gestiegen. Ein Problem, das Trump immer wieder anführt und damit auch nicht falsch liegt. Ob er es allerdings ändern könnte, ist fraglich.

Alle Hoffnung auf Harris

So oder so: Auf Kamala Harris liegen die Hoffnungen der westlichen Welt, weil sie verspricht, die Allianz der Vernünftigen zu stärken und nicht die Tyrannen der Erde zu hofieren – so wie es Donald Trump als Präsident tat, es heute als Kandidat tut und als nächster Präsident auch wieder tun würde.

Sie kommt zum Zug, weil Joe Biden ein Einsehen in seine eigene Zerbrechlichkeit hatte. Harris sammelte in der Zwischenzeit mehr als 100 Millionen Dollar Wahlkampfspenden, sie hat eine echte Chance, die erste Präsidentin der USA zu werden.

Übrigens war sie das schon einmal, für 85 Minuten. Joe Biden hatte sich 2021 einer Darmspiegelung unterziehen müssen und Harris waren für die Zeit der Narkose die Amtsgeschäfte übergeben worden. Zeit, diesen 85 Minuten noch ein paar Jahre hinzuzufügen.