Aus dem Pralinengeschäft in der Berner Innenstadt weht süßer Duft. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Männer und Frauen, nicht alle tragen eine Maske. „Die Leute lassen sich durch Corona nicht die Lust auf unsere Leckereien verderben“, sagt die Verkäuferin und packt Pralinen ab.

Maskenpflicht wird großzügig ignoriert

Die Berner Altstadt ist voll an diesem Novembertag, in den pittoresken Gassen und in etlichen Geschäften und Bistros kommen sich Passanten und Gäste nahe. Gefährlich nahe. Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmungen der Schweizer Regierung einen Mund- und Nasenschutz überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Selbst in der Schweizer Bundesstadt hält sich nicht jeder an die landesweit geltende Maskenpflicht für Läden, Gastronomiebetriebe und „belebte Fußgängerbereiche“.

In der Schweiz halten sich längst nicht alle an die Maskenpflicht. Hier eine Szene aus Zürich.
In der Schweiz halten sich längst nicht alle an die Maskenpflicht. Hier eine Szene aus Zürich. | Bild: Ennio Leanza, dpa

Nötig wäre das schon. Denn die Eidgenossenschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internationalen Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. „Es ist fünf vor Zwölf“, rief Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bereits Mitte Oktober. Kurz darauf schrieb die Redaktion von Tamedia über die Fallzahlen in der Schweiz: „Das Tempo ist fast Weltspitze.“ In der ersten Woche des Novembers meldete das Bundesamt für Gesundheit mehrmals täglich über 10.000 bestätigte Covid-19-Neuinfektionen. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das einen alarmierenden Wert. Zum Vergleich: Deutschland hat fast zehnmal so viele Einwohner, aber nur etwa zwei- bis dreimal so hohe Infektionszahlen.

Gesundheitsminister Alain Berset (links) und die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verkünden im Oktober neue ...
Gesundheitsminister Alain Berset (links) und die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verkünden im Oktober neue Corona-Schutzmaßnahmen. | Bild: AFP

Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen füllen sich, die Zahl der erfassten Todesfälle betrug zuletzt schockierende 107 innerhalb eines Tages. Zwar sanken in dieser Woche die erfassten Neuinfektionen wieder in den vierstelligen Bereich. Doch Gesundheitsminister Alain Berset muss gestehen: „Die Lage bleibt ernst.“

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Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versicherte: „Wir können Corona.“ Im Juni registrierte die Regierung, der Bundesrat, nur noch vereinzelte Ansteckungen. Das Kabinett hob die scharfen Restriktionen des ersten Lockdowns schrittweise auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut.

Wer trägt die Verantwortung?

Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwortung für die eskalierende Krise? Wie kann die reiche, durchorganisierte Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern? Die Antworten reichen vom Politikversagen über den berüchtigten Kantönligeist bis zu den sinkenden Temperaturen. Und: Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckende Sorglosigkeit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröhliche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleunigten die Corona-Ausbreitung.

Bild 3: Explodierende Coronazahlen, knappe Test-Kapazitäten, Zickzack-Kurs der Politik – versagt die Schweiz in der Pandemie?
Bild: DPA

Zickzack-Kurs der Schweizer Bundespolitik

Virus zirkuliert beim Jodelfest

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus, viele Besucher infizierten sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzeller Gemeinde Schwellbrunn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. „Das macht mich traurig, entsetzt und wütend“, konnte Schwellbrunns Gemeindepräsident Ueli Frischknecht nur noch hervorbringen. Auch die behutsamen Schwestern des Klosters Cazis in Graubünden waren vor dem Virus nicht gefeit. Anfang November meldete die Priorin von Cazis, dass mehr als ein Dutzend der Dominikanerinnen erkrankt sind.

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Epidemiologe: „Politisches Totalversagen“

Vor allem aber zeigen Schweizer Politiker nicht immer den nötigen Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastischer als die Schweiz. Der Epidemiologe Christian Althaus beklagt „das politische Totalversagen der Schweiz“. Keine Verantwortlichkeiten seien auf irgendeiner Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer „COVID-19 Science Task Force“ sitzt.

Ein Corona-Testcenter vor dem Stadtkrankenhaus Triemli in Zürich.
Ein Corona-Testcenter vor dem Stadtkrankenhaus Triemli in Zürich. | Bild: Ennio Leanza, dpa

Hinzu kommt das kleinteilige föderale System der Schweiz, das ein erfolgreiches Krisenmanagement behindert: Im Juni gab der Bundesrat die „Hauptverantwortung“ für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvorgaben an. Jeder Kanton ist befugt darüber hinauszugehen. Jedoch kann von einer abgestimmten Strategie der stolzen Gliedstaaten nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseur-Salons geschlossen. Im benachbarten Kanton Waadt dürfen die Figaros weiter ihre Kunden bedienen. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnitt in die Waadt. Und Genfer Coiffeure helfen in der Waadt aus.

Im Schweizerischen Freiburg unterhalten sich Mitarbeiter des Gesundheitswesens in einem Testzentrum.
Im Schweizerischen Freiburg unterhalten sich Mitarbeiter des Gesundheitswesens in einem Testzentrum. | Bild: Cyril Zingaro, dpa

Unterstützung von der Armee

Zu der verschärften Corona-Situation kommt hinzu, dass es beim Personal in den Krankenhäusern eng wird. „Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattung fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepersonal, das am Bett dieser Patienten stehen muss“, erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee gemäß Tamedia. Fachleute der Streitkräfte berechnen derzeit die Kapazitäten in den Krankenhäusern für die Schweizer Regierung; angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheitswesen einspringen. Doch selbst die Mobilisierung der bis zu 2500 helvetischen Soldaten bringt keine anhaltende Entspannung – denn die Uniformierten können kaum als Intensivpfleger eingesetzt werden.