Herr Weselsky, wenn Sie dem Bahnsystem in Deutschland eine Schulnote verpassen müssten, welche wäre es?
Setzen, sechs.
Gibt es gar keine Hoffnungsschimmer?
Meine Kolleginnen und Kollegen erleben täglich das Desaster. Die ganzen Verspätungen führen dazu, dass ihre Dienstpläne nicht mehr funktionieren. Und sie können nichts dagegen tun. Wenn man sich aus der Sicht des Fahrgastes das Ganze anschaut, kann ich nur eins sagen: Die Diskussionen, die vom Vorstand mit Vorliebe geführt werden, zeigen immer in die weit entfernt liegende Zukunft.
Die wollen gar keine Diskussion um die Gegenwart. Und wenn ich so einen frechen Satz höre wie vom Vorstandsvorsitzende der DB AG, Dr. Lutz, indem er sagt: „Ja, wir wissen, das ist ein schlimmer Zustand, aber bevor es besser wird, wird es noch schlimmer.“ Das ist eine Unverschämtheit von jemandem, der diesen Zustand verursacht hat.
Wenn Sie Bahnchef wären für einen Tag, was wären die ersten Dinge, die Sie ändern würden?
Wenn ich Bahnvorstand machen würde, dann nur unter bestimmten Bedingungen. Ich bin nicht bereit, unter den herrschenden politischen Rahmenbedingungen, unter diesem Verkehrsminister eine verantwortliche Position zu übernehmen, weil man läuft sich einfach nur tot. Die erste Entscheidung, die ich fällen würde, wäre, das Dienstwagenprivileg abzuschaffen.
3500 Führungskräfte ringen um den besseren, größeren Dienstwagen. Es gibt kein Unternehmen auf der Welt, wo das eigene Produkt so gemieden wird wie bei der Deutschen Bahn. Wären die Führungskräfte in Zügen unterwegs, würde die Eisenbahn sehr wahrscheinlich wesentlich besser aussehen. Stattdessen lassen sie sich kutschieren oder fahren durch die Gegend mit riesen SUVs.
Wie kam es denn zu dieser Entwicklung?
Das hat sich aufgebaut. Eine Fehlentwicklung, die sich am Beginn womöglich in einem kleineren Kreis abzeichnete, wird einfach fortgesetzt. Bis jetzt hat mir noch niemand die Frage beantwortet, für was wir eigentlich 3500 Führungskräfte brauchen. Für einen Laden, der sowieso nicht funktioniert. Offensichtlich führen sie diesen Konzern beziehungsweise ihre jeweilige Sparte nicht richtig.
Besser läuft es bei den Schweizern. Was können wir von Ihnen lernen?
Die Schweizer haben vieles richtig gemacht. Sie haben in einem Volksentscheid 2002 entschieden, dass die Eisenbahn das Herzstück des Verkehrs insgesamt sein soll. Diese Entscheidung hat es in Deutschland nie gegeben. Wir haben in Sonntagsreden immer die Eisenbahn als das tollste Verkehrsmittel beschrieben, aber in Wahrheit haben wir alles dafür getan, dass die Eisenbahn immer schlechter geworden ist.
In der Schweiz gibt es ein fundiert gemanagtes System, das den Menschen richtig Freude bereitet. Und immer wenn ich in der Schweiz bin, genieße ich das, dass man eben auch nach Mitternacht noch aus einer Großstadt aufs Land fahren kann und dazu nicht das Auto nehmen muss.
Bei den Schweizer Bundesbahnen gab es allerdings auch seit 1918 keinen Streik mehr...
Ja, das Sozialsystem und die Sozialpartnerschaft ist in der Schweiz etwas völlig anderes. Ich nehme etwas wahr, was es in Deutschland schon lange nicht mehr gibt. In der Schweiz gibt es eine Wertschätzung aller Menschen für jeden Beruf.
Ob das ein Lokomotivführer ist, der mit besonderer Wertschätzung betrachtet wird, ob das die anderen Eisenbahnerberufe sind oder ob das Menschen sind, die in der Pflege arbeiten. Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl führt auch zu einem veränderten Verhalten. Wenn die Schweizer Kollegen sich einbringen können und ihre Eisenbahn funktionsfähig ist, dann müssen sie sich nicht mit dem Vorstand auseinandersetzen.

Bei uns dagegen gibt es oft den Vorwurf: Der Ruf der Bahn ist schlecht und wegen der Streiks der Lokführer wird er noch schlechter.
Die These ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Eisenbahnsystem wird in den Augen der Menschen nicht dadurch besser, dass wir in regelmäßigen Abständen im Streik sind. Mir wird die Diskussion aber zu verkürzt geführt. Wo sind denn die Ursachen für die Auseinandersetzung? Dass der Vorstand sich selbst bedient und für die kleinen Leute nichts übrig bleiben soll, betrachtet die GDL als ungerecht. Und dann kommen wir regelmäßig in die Auseinandersetzung.
Es ist auch bewiesen, dass wir mit anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen friedlich Tarifverträge verbessern. Die berühmt-berüchtigte 35-Stunden-Woche haben wir mit einem großen Teil im Markt auf friedlichen Wegen erreicht.
Denken Sie da manchmal nicht sogar, dass die Deutsche Bahn oder andere Bahnunternehmen Ihnen dankbar sein könnten? Diese können jetzt damit werben, wie attraktiv die Arbeitsbedingungen sind.
Ich nehme mit Freude wahr, dass ein Teil der Unternehmen jetzt mit dieser 35-Stunden-Woche wirbt. Was wir festgestellt haben, sind mindestens drei Punkte. Erstens gibt es seit Jahrzehnten eine Unterdeckung an Personal. Zweitens, der Eisenbahnverkehrsmarkt ist dem Grunde nach überdehnt. Das Netz ist an vielen Stellen wirklich überbelastet. Und die dritte Komponente war, dass wir feststellten, dass die jungen Menschen eben nicht so richtig begeistert sind, wenn sie in ein vollkontinuierliches Schichtsystem einsteigen sollen.
Wir haben das dadurch attraktiver gemacht, dass wir weniger Wochenarbeitsstunden haben und gleichzeitig noch eine wirklich enorme Gehaltserhöhung, die sehr solidarisch bei insgesamt 420 Euro liegt. Das wertet die Eisenbahnberufe alle zusammen auf.
Die Lokführer sind dankbar, das glaube ich. Wie ist das, wenn Sie Zug fahren oder über die Straße laufen? Wie kommen da die Leute auf Sie zu?
Was wir nicht so vorhergesehen haben, ist die hohe Wirkung ins ganze Land hinein. Selbst in der kritischsten Phase der Arbeitskämpfe war der überwiegende Teil der Leute verständig. Ich erwarte von niemandem Dankbarkeit, dem der Zugverkehr entzogen wird. Von daher waren die negativen Ansprachen trotzdem gering.
Und nachdem wir den Tarifvertrag umgesetzt haben, gibt es einen unglaublichen Hype in der Gewerkschaftsbewegung. Wir sehen, dass Verdi im Nahverkehr denselben Weg beschreitet, Arbeitszeitverkürzung in die Diskussion bringt. Von daher ist die Strahlwirkung eine positive. Ich komme fast nirgends vorbei ohne ein kurzes Gespräch oder dass mir gedankt wird. Die Menschen reagieren absolut positiv, sehen die Eisenbahner als Vorbild. Viele wünschen mir jetzt schon einen begnadeten Ruhestand.
Sie sprechen es an, nach 16 Jahren endet im Oktober ihre Zeit als GDL-Chef. Hören Sie auf dem Höhepunkt auf?
Die letzte Tarifrunde hat mit einem hohen Energieeinsatz alles gefordert, aber sie war erfolgreich. Und von daher kann ich sagen, auch unter meinem Vorgänger, hat es eine Langfriststrategie gegeben, die die Entwicklung der GDL vorgedacht und umgesetzt hat. Das ist ja schon zum dritten Mal meine letzte Runde, aber diesmal ist es, versprochen, wirklich die letzte Runde. (lacht) Es fühlt sich gerade unglaublich gut an. Und ich glaube, es ist auch an der Zeit, zu gehen. Denn wenn man mit sich selber ehrlich ist, stellt man schon fest, dass mit zunehmendem Alter die Leistungsfähigkeit sich nicht steigert, sondern Stück für Stück abnimmt.
Ich glaube, Energielosigkeit hat Ihnen aber noch niemand vorgeworfen, oder?
Das wird auch nie so sein. (lacht) Aber ich stelle fest, dass ich für bestimmte Aufgaben wesentlich länger brauche. Das macht ein bisschen frustig, wenn man sich denkt: Mensch, das hast du doch früher schneller erledigt.
Wenn Sie zurückblicken auf all die Jahre, würden Sie sagen, irgendwo gab es auch was, wo Sie über das Ziel hinausgeschossen sind?
Ich sage immer: Menschen, die arbeiten, machen Fehler. Wenn Sie die letzte Runde anschauen in der Pressekonferenz, wo ich nur eine Frage falsch beantwortet habe, da ist ein Bohei draus gemacht worden. Da wurde von der anderen Seite gleich so getan, als hätten wir den Vorschlag der Moderatoren gar nicht richtig bewertet. Gehört alles zum Geschäft. Die entscheidende Komponente ist, dass ich in der Lage bin, einen Fehler zuzugeben.
Ich habe eines gelernt: Die Menschen, unsere Mitglieder, die wissen, dass manches schwer ist und manches auch nicht umsetzbar. Die lieben aber Ehrlichkeit. Und Solidarität, das Wort spricht sich so schnell aus. Aber wie viel Solidarität gibt es denn tatsächlich in dieser Welt? Ich sehe fast überall nur eins: teile und herrsche.
Das sind wir ja schon bei der Politik angekommen. Sie sind immer noch CDU-Mitglied, oder?
Ich bin immer noch CDU-Mitglied.
Würden Sie heute nochmal eintreten?
In eine Partei eintreten war damals richtig, weil es Sinn macht, eine Gewerkschaft parteipolitisch zu verankern. Es gab und gibt auch heute kaum eine andere Partei, zu der ich mit meinem konservativen Inneren eigentlich passe. Wenn ich mir allerdings die Fehlentscheidungen der CDU anschaue, dann stellt sich mir schon die Frage, ob wir weiter tatenlos zusehen sollten.
Es gab eine Fehlentscheidung in Richtung Tarifeinheitsgesetz. Es gibt Fehlentscheidungen in der Frage der Eisenbahnprivatisierung, die das ja über Jahrzehnte mit CSU-Politikern besetzte Verkehrsministerien immer weiter tradiert hat. Und trotzdem halte ich etwas davon, in einer Partei zu sein, denn wenn sie austreten, können sie nichts mehr bewirken.
Wenn man auf Ihr Heimatland Sachsen blickt: In den Landtagswahlen im September könnte die AfD stärkste Kraft werden, die in Sachsen als gesichert rechtsextrem gilt. Wie schauen Sie auf diese Entwicklung?
Mich macht das zornig und vor allem macht es mich zornig, wenn ich diese unsäglichen Vorwürfe gegen Wähler betrachte. Die Menschen wählen gegen die etablierten Parteien. Das ist der Kern der Aussage, wie die Wahlen hier ablaufen. Die Politik hat Entscheidungen getroffen, die den kleinen Bürger in die Bredouille bringen, die Menschen an den Rand der Existenz bewegen, die unseren Mittelstand negativ beeinflussen, während Großkonzerne Milliarden an Zuschüssen abpassen.
Da kann ich alle diejenigen verstehen, die sagen, so darf es nicht weitergehen. Das BSW hat in der gesamten Republik sechs Prozent erreicht in den Europawahlen. Von daher gibt es jetzt mehr als eine Alternative. Das finde ich gut.
Haben Sie sich selbst mal überlegt, politisch aktiv zu werden?
Ja, ich habe vor mehr als fünf Jahren für mich geprüft, ob es eine Politisierung gibt, die in die Zukunft hinein noch etwas mitbewirken kann. Aber die Parteisysteme sind so aufgebaut, dass im Prinzip mit Anordnungen gearbeitet wird und Parlamentariern vorgeschrieben wird, wie sie zu wählen haben. Das hat dazu geführt, dass ich das beendet habe, weil das aus meiner Sicht nicht möglich ist, dass ich morgens aufstehe, einen Eimer Kreide fresse, um über den Tag zu kommen. Oder aus meiner Wirbelsäule ein Gartenschlauch wird, wie ich das bei vielen feststelle. Gibt‘s mit mir nicht.
Sie hätten auch eine Weselsky-Partei gründen können. Liegt ja gerade im Trend, so personalisierte Parteien.
Ja, ich finde, die Personalisierung ist nicht richtig. Ich wünsche mir, dass das BSW am Ende des Jahres für sich einen vernünftigen Namen findet, der weg von der Person geht. Ich bin ein Stück weit erstaunt über die Qualität und die Erfolge, die dort erzielt werden. Und ich finde, es ist aller Ehren wert, so viel Mut zu haben und aufzustehen, eine neue Partei zu gründen. Dafür würde ich sagen, ist es bei mir momentan zu spät.
Beenden wir das Gespräch positiv: Warum ist die Eisenbahn trotz allem das Beste aller Verkehrsmittel?
Es ist rationell. 800 Menschen im Zug hinter einem Lokführer, 2000 Tonnen Güter mit einem Lokführer. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es das umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist, was den niedrigsten Schadstoffausstoß hat, dass es auch am verkehrssichersten ist, wenn man Unfalltote und so weiter betrachtet. Mit der Entwicklung der Klimabewegung wurde die Eisenbahn nochmal gepusht. Das ist ein Glücksfall. Und deswegen kämpfen wir auch wie die Löwen, um das System zu verbessern.