Was feiern wir eigentlich am 1. Mai? Das ist mit der Bierflasche in der Hand schnell beantwortet: Den Tag des Bollerwagen-Besäufnisses natürlich. Kann man machen, hab‘s ja selbst schon. Denn gerade Männer müssten sonst ja knapp einen Monat warten, bis sie denselben Exzess dann unter dem Schlagwort Vatertag grad nochmal begehen können.
Und der Tag der Arbeit? Ist doch irgendwie auch egal, durchgespielt, wir halten die Fabrikarbeiter ja nicht mehr wie im Chicago der 19. Jahrhunderts, alles tippitoppi für alle.
Aber, oh Schreck, plötzlich muss man wieder auf ihn schauen, auf den Arbeiter. Jetzt erdreistet er sich plötzlich, die AfD zu wählen! Zeigen zumindest Wahl-Nachbefragungen. Da müssen wir natürlich was ändern. Naja, vielleicht müssen wir erstmal genau hinschauen.
Der „Arbeiter“ verdient nicht unbedingt schlecht
Nun sieht man den Arbeiter, manch wacher Geist auch die Arbeiterin, direkt vor sich: Hart schuftend, schlecht bezahlt. Leider ist das keine sehr zielführende, weil unklare Definition. Auch für professionelle Akteure ist die Einteilung schwer. So setzen viele Umfrageinstitute schlichtweg darauf, wie sich die Befragten selbst bezeichnen. Und da verstehen sich dann auch sehr viele gewerkschaftlich organisierte Angestellte als Arbeiter.
Das Problem dabei: Wer auch nur im Dunstkreis etwa des Metall- oder Chemie-Tarifvertrags arbeitet, wird wahrscheinlich hart schuften, sehr wahrscheinlich aber auch nicht schlecht bezahlt werden, jedenfalls weit oberhalb vom staatlichen Mindestlohnniveau.
Viele der sich als Arbeiter fühlenden Menschen erlebt damit Mindestlohndebatten eher aus der anderen Perspektive: der damit verbundenen Teuerung. Eine falsche Vorstellung des „AfD-Arbeiters“ verleitet nur zur Fehlannahme, man könne die Anfälligkeit für Rechtspopulismus einfach durch staatlich vorgegebene höhere Löhne beenden. Dabei geht es um Tieferes.
Sie dürfen gar nicht wählen
Und es droht zudem den Blick auf die tatsächlich prekär beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter zu verstellen. Die tauchen in immer größerer Zahl nämlich in gar keiner Wahl-Befragung auf – weil sie schlichtweg nicht wählen dürfen.
Denn fast jeder sechste Beschäftigte in Deutschland ist gar kein Deutscher. Dieser Anteil hat sich zwischen 2010 und 2023 mehr als verdoppelt. Die Branchen mit dem höchsten Ausländeranteil: Reinigungskräfte, Lebensmittelherstellung, Bau, Logistik. In diesen Land-am-Laufen-halten-Jobs ist jeder vierte bis fast jeder zweite Arbeiter Ausländer.
Sozialpolitisch edel, machtpolitisch unklug
Hier gibt es Millionen Steuerzahler ohne bundespolitisches Mitsprachesprecht und fast ohne gesellschaftliche Stimme. Selbst gut begründete Mindestlohnerhöhungen können deshalb sozialpolitisch edel und machtpolitisch doch unklug sein: Viele Hauptprofiteure können sich nicht mit Stimmen dafür bedanken. Diese ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter (sie würden wohl eher nicht AfD wählen) werden so nur aus einer verzerrten Perspektive wahrgenommen.
Arbeiter in Fleischwerken waren mal kurz Thema, weil sie wegen ihrer schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen so unpraktisch viel Corona-Fälle anhäuften, war mal kurz unbequem, dann doch wieder egal.
Und Reichenau-Gemüse-Chef Johannes Bliestle sagte dem SÜDKURIER neulich, ein höherer Mindestlohn bedeute nur, dass die Saisonarbeiter früher abreisten, weil sie ihre geplante Zielsumme verdient haben. Aus Arbeitgebersicht nervig, das muss man gar nicht diskutieren.
Die andere Perspektive
Aber, welche Fragen gar niemand stellt: Wenn eine Rumänin früher zurück kann zu ihren Kindern, wenn ein Bulgare schneller mit seinem Geld in der Heimat helfen kann – ist das denn schlecht?
Wenn unsere Mit-Europäer für etwas weniger Zeit weit weg von daheim in mittelprächtigen Unterkünften wohnen müssen, kürzer für den minimalen rechtlich zulässigen Lohn eine Arbeit machen müssen, die Einheimische verabscheuen?
Zahle ich dafür vielleicht dann doch auch mal gerne zehn Cent mehr für den Apfel?
Wäre das nicht irgendwie... sozial?
Man muss das nicht bejahen, kann es aber und sollte diese Perspektiven am 1. Mai einmal mitdenken. Oder man leert sich halt fünf Liter Bier rein. Alkohol oder Arbeiterproblematik: Kopfschmerzen bereitet einem beides – außer man ist gefährlich abgestumpft.