Thüringen liegt in der Mitte Deutschlands, wegen seiner weiten Wälder wird es das Grüne Herz genannt. Und dieses Thüringen mit seinen 2,1 Millionen Einwohnern hat am Sonntag die politische Mitte Deutschlands verstört, das Herz der deutschen Politik ist aus dem Takt geraten. Die Rechtsnationalisten von der AfD um ihren Chef Björn Höcke haben die Landtagswahl gewonnen: Rund 30 Prozent der Thüringer Wähler stimmten den ersten Zahlen zufolge für die Rechtspartei. Deren Chef gab sich vor diesem Hintergrund selbstbewusst: „Wir sind bereit Regierungsverantwortung zu übernehmen“, sagt Höcke, und obwohl niemand mit ihm eine Koalition eingehen will, ergänzt er: „Veränderung wird es nur mit der AfD geben.“

Höckes Wahlkampf gegen Ausländer und die Hilfe für die Ukraine haben offenbar verfangen. Sein Sieg allein wäre ein tiefer Einschnitt im Gepräge dieses Landes, doch damit nicht genug. Die Neulinge vom Bündnis Sahra Wagenknecht wurden aus dem Nichts nach den ersten Hochrechnungen drittstärkste Kraft. Selten war der Begriff Wahlbeben treffender.

AfD siegt bei der Landtagswahl in Thüringen: Hat Deutschland seine Lektion verlernt?

Ihren großen Triumph feiert die AfD unter sich. Die Presse wurde von der geplanten Wahlparty ausgeladen, die Begründung: Zu viele Anmeldungen von Journalisten und ein daraus ergebendes Platzproblem. Das Lokal ist abgeriegelt, keine Chance auf Blicke von außen. „Ich bin überglücklich, ich bin stolz auf meinen Landesverband“, sagt Höcke später vor Kameras. Er erhebt den Anspruch auf die Macht in Thüringen. Der ehemalige Geschichtslehrer ist selbst in der extremen AfD ein Extremer, er rüttelt am moralischen Fundament der Bundesrepublik, dem „Nie wieder“ nach den Schrecken des Nationalsozialismus. Höcke wurde für die Verwendung der SA-Parole „Alles für Deutschland“ gerichtlich verurteilt, er sprach vom Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden als einem „Denkmal der Schande“. Diesem Mann haben die Thüringer die meisten Stimmen gegeben. Vor 100 Jahren erlangten die Nationalsozialisten im Freistaat ihre erste Regierungsbeteiligung.

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Die Ampel-Parteien holen sich eine Klatsche ab

Die etablierten Parteien, die für den Konsens des „Nie wieder“ stehen, haben am Sonntag mit Ausnahme der CDU heftige Niederlagen erlitten. Für die Ampel-Parteien ist es ein Fiasko. Die FDP ist aus dem Landtag geflogen, wahrscheinlich auch die Grünen. Die SPD holt magere 7 Prozent. Und in Thüringen hat sich der Niedergang der Linken beschleunigt. Selbst der beliebte Ministerpräsident Bodo Ramelow konnte nicht verhindern, dass seine Partei nur 12 Prozent holte.

Der Kontrast zu den Ampel-Parteien und der Linken könnte im Wagenknecht-Lager größer nicht sein. Bei den ersten Prognosen applaudieren sie kräftig, johlen und lachen. Wagenknecht und die Thüringer Spitzenkandidatin Katja Wolf liegen sich in den Armen. Im Schatten des Doms feiert das BSW seine Wahlparty bei bestem Sommerwetter. Schon vor den Zahlen hatten Mitglieder und Unterstützer entspannt und voller Zuversicht bei Wasser, Bier und Wein auf der Terrasse geplaudert.

Sahra Wagenknecht stellt Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung ihres BSW

Im Jubel ihrer Leute ergreift Parteigründerin Sahra Wagenknecht das Wort. „Hier ist eine Kraft entstanden, die wird das politische System verändern“, ruft sie in den Saal des Dompalais. Es habe eine große Repräsentationslücke gegeben. „Ganz viele Menschen haben darauf gewartet, dass das BSW gegründet wurde.“ Für die 55-Jährige ist es ein Heimspiel. Sie wohnt zwar mit Ehemann Oskar Lafontaine im Saarland, stammt aber aus Jena. Und dann zählt sie auf, was ihr Bündnis politisch will. Weniger Stundenausfall in den Schulen, weniger Bürokratie. So weit, so unproblematisch. Doch dann legt sie nach: Keine amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland, Einsatz für den Frieden in der Ukraine. In Wagenknechts Interpretation heißt das ein Ende der Waffenlieferungen an Kiew. „Das wird eine Grundbedingung sein, wenn wir in eine Landesregierung eintreten“, diktiert Wagenknecht.

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Ihre Forderungen richten sich vor allem an einen Politiker in Thüringen. Es ist der Thüringer CDU-Chef Mario Voigt, der etwa ein Viertel der Stimmen einfuhr. Weil seine Partei eine Brandmauer zur AfD und zur Linken errichtet hat, bleiben ihm nur BSW und SPD als Koalitionspartner. Für die CDU als Partei der Westbindung sind die Forderungen Wagenknechts eigentlich ein Unding. Die BSW-Mischung ist neu im Parteiensystem: Ökonomisch tickt sie links, will einen starken Sozialstaat und hohe Steuern. Bei Migration und den Reizthemen Gendern und Energiewende tickt sie rechts. „Wir werden auch dort gesprächsoffen sein“, sagt Voigt trotzdem tapfer. Für seine Partei könnte eine Koalition mit Wagenknecht zur Zerreißprobe werden.