Das erste Opfer des Krieges, so sagt eine alte Erkenntnis, ist die Wahrheit. Im Osten Europas rollen zwar noch keine Panzer – dafür wird umso mehr getäuscht, getrickst und gelogen. Bilder des russischen Verteidigungsministeriums zeigen Panzerkolonnen, die angeblich in die Kasernen zurückkehren. Ziehen die russischen Truppen wirklich ab? Oder fahren sie nur im Kreis? Werden sie gar verstärkt, wie die Amerikaner mutmaßen?

Einen kurzen Moment lang schien sich die Lage an der ukrainischen Grenze zu entspannen. Jetzt ist wieder von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff die Rede. Die Warnungen aus Washington sind unmissverständlich.

Die am 17. Februar 2022 von Planet Labs PBC herausgegebene Aufnahme soll ein Trainingslager der russischen Armee bei der russischen ...
Die am 17. Februar 2022 von Planet Labs PBC herausgegebene Aufnahme soll ein Trainingslager der russischen Armee bei der russischen Stadt Woronesch, nahe der Grenze zur Ukraine, zeigen. | Bild: Planet Labs PBC/dpa

Nur: Was und wem soll man glauben? Wladimir Putin, dem Meister des Tarnens und Täuschens, der im Gespräch mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz versicherte, natürlich wolle er keinen Krieg? Oder den Amerikanern, die in militärischen Fragen ebenfalls ein Glaubwürdigkeitsproblem haben, seit sie 2003 am Vorabend von George W. Bushs Irak-Krieg Märchen über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen erzählten?

Der für vergangenen Mittwoch prophezeite große Angriff Russlands auf die Ukraine blieb jedenfalls aus. Kriege in Europa beginnen selten an einem Mittwoch, spottet der russische Botschafter in Brüssel.

Die Indizien sind eindeutig

Und doch bleiben die Indizien alarmierend. Laut US-Angaben stehen bis zu 190.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze. Das Land ist von drei Seiten in die Zange genommen. Satellitenbilder zeigen Kampfflugzeuge, Panzer, Raketenwerfer, Radarstellungen – alles, was eine Armee für eine große Invasion braucht.

Noch beunruhigender sind die Nachrichten aus dem Osten der Ukraine, wo russische Separatisten seit sieben Jahren um die Abspaltung kämpfen. Das ganze Gebiet droht in Flammen aufzugehen. Die Gefechte sind die schwersten seit Kriegsbeginn 2015, Kreml-Chef Putin fabuliert von Völkermord an der russischsprachigen Minderheit durch die ukrainische Armee. Genauso gut könnte er sagen: Ich suche einen Anlass zum Eingreifen, hier finde ich ihn.

Mit Waffen ist die Ukraine nicht zu verteidigen

Sofern er es wirklich vorhat. Satellitenbilder geben Auskunft über die Stärke eines Gegners, nicht aber über dessen Absichten und Motive. Putin lässt sie weiterhin bewusst im Dunkeln. Mit militärischen Mitteln, so viel steht fest, ist ein Einmarsch in die Ukraine nicht zu verhindern. Das Land selbst kann sich kaum verteidigen: Die Regierung in Kiew verbreitet Bilder von Frauen und Zivilisten, die mit Holzgewehren den Krieg üben.

Bewaffneten Beistand von außen hat die ehemalige Sowjetrepublik nicht zu erwarten, da sie nicht Mitglied der Nato ist. Leichte Beute für Putin also – es sei denn, der Westen treibt den Preis für eine Invasion anderweitig hoch. Amerikaner und Europäer waren daher gut beraten, geschlossen aufzutreten und dem Kreml-Chef mit einem Sanktionshammer zu drohen, den die milliardenschweren Machthaber in Moskau schon mit Blick auf ihre Privatkonten ins Kalkül ziehen müssen.

Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz im Kreml.
Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz im Kreml. | Bild: Sergei Guneyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Es mag daher sein, dass Russlands Präsident unterschätzt hat, in welches Dilemma er sich mit seinen Drohgebärden manövriert. Putin geht es darum, seine Macht langfristig zu sichern, indem er sein Land zu alter Größe und Bedeutung zurückführt und damit eine nationalistisch tickende Bevölkerung beeindruckt. Er spricht von russischen Sicherheitsinteressen, meint aber einen Gürtel abhängiger Staaten, die sich Moskau unterordnen und einen Teil ihrer Souveränität abgeben.

Der Westen kann dazu nicht Ja und Amen sagen, es sei denn, die Angst vor einem Krieg zwingt ihn dazu. Putin hat das erkannt und zeigt daher seit Wochen die Folterinstrumente vor. Die Kraftprobe gewinnt, wer die besseren Nerven hat.

Europa braucht Stehvermögen

Vieles deutet deshalb darauf hin, dass diese Krise Europa noch einiges an Stehvermögen abverlangt, selbst wenn die meisten russischen Truppen von der ukrainischen Grenze abgezogen werden sollten. Sie können jederzeit wiederkommen. Das zwingt den Westen, seine Vorstellungen von Sicherheit in Europa zu überdenken und eine tragfähigere Friedenskonstruktion zu finden. Ohne Russland, das merkt im Augenblick jeder, geht das nicht.

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Die Frage ist, wie weit die Nato-Staaten bei diesem Spagat einem Staats-Chef entgegenkommen wollen, der sich seit Jahren wie der Anführer einer feindlichen Macht verhält – und sich dabei ungern in die Karten schauen lässt. Die diskrete Besetzung der Krim 2014 hat gezeigt, welcher Art der Kriegsführung Wladimir Putin den Vorzug gibt: leise vorrücken, abstreiten, bluffen, dazu Hacker-Attacken und Propaganda-Feldzüge in anderen Ländern, um sie zu destabilisieren.

Es sind die Methoden eines Machtpolitikers, der sein Handwerk nicht in einer Kaserne, sondern beim Geheimdienst gelernt hat. Der Westen hat ihm immer noch nicht viel entgegenzusetzen.