Tempolimit ja oder nein? Bei kaum einem anderen Thema schlagen die Emotionen in der Autofahrernation Deutschland so hoch. Zuletzt dachte Wirtschaftsminister Robert Habeck laut darüber nach bei seinem Versuch, Alternativen für russische Energielieferungen zu finden. Zudem könnte man mit langsameren Fahrten bei Rekordpreisen an der Zapfsäule auch noch Geld sparen, meinte Reiner Hoffmann, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Diese Überlegungen reihen sich ein in eine ganze Riege von Argumenten für und gegen ein Tempolimit: Verhindern Tempolimits Staus? Retten sie Leben? Kann sich Deutschland unabhängiger von Russland machen, während die Deutschen auch noch Geld sparen?

Studien? Fehlanzeige

Auf der Suche nach Antworten wird klar: Es gibt kaum welche. Verlässliche Studien rund um eine der heißesten politischen Fragen der vergangenen Jahre sind Mangelware. Der ökologisch geprägte Verkehrsclub Deutschland spricht von einem „forschungspolitischen Loch“, seit den 1970ern habe das Bundesverkehrsministerium (BMDV) keine Studien zum Thema mehr in Auftrag gegeben.

Großes Interesse, das zu ändern, scheint es in Berlin nicht zu geben. „Aktuelle Studien zum Tempolimit liegen dem BMDV nicht vor“, teilt eine Sprecherin auf Anfrage des SÜDKURIER knapp mit. Die Frage, ob solche Studien geplant seien, lässt sie unbeantwortet.

Ohne Fakten ist es aber schwierig, eine Debatte zu führen. Wer hat am Ende Recht, wenn es gar keine Faktenbasis für angebrachte Argumente gibt? Wenn niemand genau weiß, welche Effekte ein Tempolimit am Ende haben könnte?

Der SÜDKURIER hat versucht, Fakten und Daten zu sammeln und auszuwerten. Das ersetzt keine groß angelegte wissenschaftliche Studie – die wäre die Politik den Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Aber wir versuchen hier, gängige Thesen zum Tempolimit bestmöglich auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

1. Faktencheck: Wie viel würden Autofahrer bei einem Tempolimit wirklich sparen?

Die Autobauer halten sich bedeckt, was den Verbrauch ihrer Wagen bei hohen Geschwindigkeiten angeht. Das sei so einfach nicht festzustellen und hänge von zu vielen Faktoren ab, heißt es auf Anfrage von Volkswagen. Vorgeschriebene Modellmessungen bei unterschiedlichem Tempo gebe es nicht.

Dem Umweltbundesamt (UBA) liegen allerdings Daten vor, die eine Umrechnung erlauben. Grundlage sind Spritverbräuche verschiedener Kfz-Modelle und deren Zulassungszahlen. Für den SÜDKURIER hat das Amt einen Blick in seine Datenbank geworfen. Demnach könnte Deutschland mit einem Tempolimit viele Millionen Liter Kraftstoff und noch mehr Millionen Euro sparen.

 

Rechnet man mit einem durchschnittlichen Kraftstoff-Preis von 2,10 Euro ergeben sich für alle Tempolimit-Modelle Summen in Milliardenhöhe.

 

Bei der Berechnung berücksichtigt das UBA den sogenannten Befolgungsgrad, der angibt, wie viele Fahrer sich an die Regeln halten. Verstöße tatsächlich niemand gegen das Tempolimit, würden die Einsparungen um weitere 20 Prozent steigen. Bei Tempo 100 läge das Einsparpotenzial also bei fast 1,8 Milliarden Liter Kraftstoff.

Zum Vergleich: Damit könnte man mehr als 700 olympische Schwimmbecken füllen. Umgerechnet in Euro läge die Einsparung bei Tempo 100 bei rund 3,7 Milliarden Euro und entspräche damit in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Sierra Leone.

Diese Milliarden Liter sind aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie entsprechen zwischen drei und vier Prozent des im Verkehrssektor verbrauchten Kraftstoffs. Rechnerisch würde der einzelne Autofahrer im Schnitt bis zu 75 Euro im Jahr sparen, so Martin Lange vom UBA. Für den einzelnen Menschen wäre der finanzielle Vorteil also überschaubar.

Deutschlands größten Autolobbyisten hat der SÜDKURIER ebenfalls um Stellungnahme gebeten. Auf Anfrage empfiehlt der ADAC, auf der Autobahn 120 km/h nach Möglichkeit nicht zu überschreiten. Viel wichtiger sei aber eine gleichmäßige und moderate Fahrweise. „Wer will, kann die Steigerungen beim Spritpreis mit einer vernünftigen Fahrweise kompensieren und so seinen Geldbeutel schonen“, so eine Sprecherin.

2. Faktencheck: Rettet ein Tempolimit Leben?

Weil es Untersuchungen zur Verkehrssicherheit mit und ohne Tempolimit nur kleinräumig gibt, hat der SÜDKURIER mehr als eine Million Unfälle im ganzen Bundesgebiet zwischen 2016 und 2020 ausgewertet. Unsere Vorgehensweise erklären wir detailliert weiter unten.

Das Ergebnis in Kurzform: Von den rund 13.200 Kilometern Autobahn in Deutschland sind Autofahrer auf etwa 70 Prozent der Strecke ohne Tempolimit unterwegs. Viel mehr Unfälle gab es in den fünf untersuchten Jahren aber auf den Strecken, auf denen eine Maximalgeschwindigkeit zwischen 100 und 130 km/h vorgeschrieben ist.

 

Allerdings gilt in Deutschland vor allem auf solchen Strecken ein Tempolimit, auf denen die Unfallgefahr erhöht ist — etwa wegen der Topografie, der Streckenführung oder des hohen Verkehrsaufkommens. Das ist in der Straßenverkehrsordnung so geregelt. Bei diesen Crashs sterben laut Statistik aber viel weniger Menschen als bei Unfällen auf Strecken ohne Tempolimit.

 

Die letzte Grafik lässt es schon erahnen: Von 2016 bis 2020 sind 76 Prozent aller tödlichen Unfälle auf Strecken ohne Tempolimit geschehen. Obwohl diese nur 70 Prozent des gesamten Netzes ausmachen.

Diesen Befund zu modellieren und umzurechnen auf eine konkrete Anzahl an Verkehrstoten, die ein Tempolimit verhindern könnte, wäre Aufgabe einer groß angelegten Studie.

3. Faktencheck: Gibt es auf den Autobahnen weniger Staus mit Tempolimit?

Phantomstaus hat jeder schon einmal erlebt, der längere Strecken auf der Autobahn unterwegs war. Es handelt sich um plötzlich auftretende Staus, die keinen offensichtlichen Grund haben — kein Unfall, keine Baustelle oder Ähnliches. Sie entstehen wie aus dem Nichts, wenn ein Auto abrupt bremst, etwa um einen Auffahrunfall zu vermeiden.

Martin Treiber forscht an der TU Dresden unter anderem zum Thema Verkehrsdynamik und ist Experte auf dem Gebiet der Stausimulation. Er sagt: „Ein einheitliches Tempolimit ist zur Stauvermeidung nicht nötig.“ Verkehrsabhängige oder lokale Tempolimits seien ausreichend.

Denn ein Phantomstau braucht drei Auslöser: Ein hohes Verkehrsaufkommen und sogenannte Inhomogenitäten auf der Strecke — etwa Ein- und Ausfahrten, viele Kurven, Baustellen oder eine Engstelle. Der finale Auslöser sind aber Störungen im Verkehrsfluss. „Solche Störungen werden durch ein Tempolimit reduziert“, sagt Treiber. Denn wenn alle gleich schnell fahren, sind weniger Spurwechsel und weniger Bremsmanöver notwendig.

Wie Treiber solche Szenarien modelliert, zeigt die folgende Simulation. Das Modell zeigt eine Ringautobahn mit recht hohem Verkehrsaufkommen ohne Störungen. Die Autos fahren relativ gleichmäßig, Stau ist nicht in Sicht.

Wenn nun aber ein Verkehrsteilnehmer abrupt abbremst, etwa weil sein Vordermann deutlich langsamer fährt als er selbst, entsteht innerhalb kürzester Zeit ein langer Stau wie aus dem Nichts. Obwohl der bremsende Wagen relativ schnell wieder normale Fahrt aufnimmt.

Wird es ein Tempolimit geben?

Ob all diese Fakten für oder gegen ein Tempolimit sprechen, kann jeder selbst entscheiden. Das Bundesverkehrsministerium weicht auf Anfrage des SÜDKURIER aus. Das Ministerium wolle den „Verkehr dekarbonisieren, um unabhängiger von fossilen Brennstoffen zu werden“, sagt eine Sprecherin. Ob Verkehrsminister Volker Wissing sich in Zeiten hoher Spritpreise ein Tempolimit vorstellen kann, beantwortet sie nicht: „Zuständig für Energiepreise sind das Bundesfinanzministerium und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.“