Herr Professor Kipke, kann man durch ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen einen signifikanten Sicherheitsgewinn erzielen?
Diese Frage kann ich eindeutig mit Ja beantworten. Eine Hypothese wie „Tempo 130 führt zu Sicherheitsgewinnen“ – kann wahr sein, ohne dass es nachweisbar ist, aber warum? Je mehr Daten eine Hypothese bestätigen, desto sicherer ist sie. Wir müssten also einmal flächendeckend, vielleicht in einem Bundesland, ein Tempolimit einführen, und zwar gleich über mehrere Jahre, um hieraus genügend Daten zu gewinnen. Es gab wohl schon einmal einen derartigen Versuch in Mecklenburg-Vorpommern, der die Hypothese Sicherheitsgewinn bestätigt hat, und natürlich die vielen Ergebnisse aus dem Ausland, wobei wir da ja in der Regel keinen entsprechenden Vergleichszustand haben, da es in allen Ländern der Welt schon länger ein Tempolimit auf Autobahnen gibt.
Und weshalb ist die Hypothese wahr, obwohl nicht in der Realität nachweisbar?
In der Theorie ist ein Sicherheitsgewinn recht einfach abzuleiten, denn da kann man auf die Gesetze der Physik zurückgreifen. Die Aufprallenergie im Falle eines Unfalls ist direkt proportional zur kinetischen Energie der Fahrzeuge, und die wächst nicht linear, sondern quadratisch mit der Geschwindigkeit. Das heißt, ein Fahrzeug, das mit 160 km/h auf ein Hindernis prallt, hat um 50 Prozent mehr Bewegungsenergie und damit auch mehr Schadenspotenzial als das gleiche Fahrzeug mit 130 km/h, obwohl die Geschwindigkeit nur um etwa 20 Prozent höher liegt. Bereits hieraus lässt sich ein entsprechender Sicherheitsgewinn begründet vermuten.
Die Autobahnen sind bezogen auf die Verkehrsleistung aber doch die sichersten Straßen.
Das ist richtig. Kein Autofahrer bleibt jedoch auf der Autobahn, denn irgendwann wird diese Person auf das untergeordnete Straßennetz wechseln und ist nun gezwungen, sein Fahrverhalten ziemlich radikal zu ändern, was bekanntlich nicht jedem gelingt. Ich selbst gehe daher davon aus, dass mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen auf 130 km/h oder besser noch darunter erhebliche Sicherheitsgewinne im untergeordneten Straßennetz zu erzielen wären – und zwar gerade dann, wenn von einer Autobahn auf ein städtisches Straßennetz gewechselt wird.
Wird das langsamere Fahren nicht monotoner, sodass der Ermüdung Vorschub geleistet wird?
Die Gegner eines Tempolimits verweisen hierbei gerne auf das Yerkes-Dodson-Gesetz, wonach die kognitive Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit vom allgemein-nervösen Erregungsniveau in einem mittleren Anspannungsbereich am höchsten ist. Es fehlt jedoch der Nachweis, ob sich bei hoher Geschwindigkeit, also bei ständig hohem Tempo auf linker Spur, nicht ebenso ein entsprechender Gewöhnungseffekt einstellt, der die kognitive Leistungsfähigkeit senkt. Aus einem fehlenden Tempolimit lässt sich keinesfalls ein geringeres Unfallrisiko ableiten.
Kann ein Tempolimit von 130 km/h zu einer Verflüssigung des Verkehrs und weniger Stau beitragen?
Hierzu gibt es bereits ältere Untersuchungen aus den 90er-Jahren, die genau diesen Effekt nachweisen. Die Stauwahrscheinlichkeit sinkt mit den Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Fahrzeugen, und nicht ohne Grund darf im Autoland USA wegen der geringeren zulässigen Höchstgeschwindigkeit auch rechts überholt werden. Die deutsche Regelung führt im Übrigen auch zu einer unsozialen und unwirtschaftlichen Nutzung der Verkehrsflächen, da Autofahrer mit einer geringeren Wunschgeschwindigkeit immer wieder gezwungen sind, die Fahrspuren zu wechseln, was sowohl den Verkehrsfluss stört als auch das Unfallrisiko erhöht.

Würde ein Tempolimit Elektroautos wettbewerbsfähiger machen, die ja nicht auf sehr hohe Geschwindigkeiten ausgelegt sind?
Das ist schwieriger zu beantworten, denn derzeit werden ja hauptsächlich große und schwere E-Autos wie die Teslas und SUVs angeboten und nachgefragt. Ich glaube, dass der Effekt eher untergeordnet sein wird, denn das beweist schon der Absatz vor allem teurer PS-starker Fahrzeuge in Ländern mit Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen wie zum Beispiel in Kalifornien.
Die deutschen Autobahnen gelten schon jetzt als die sichersten der Welt. Können Sie das bestätigen?
Zunächst einmal sind deutsche Autobahnen „sicher“ im Vergleich zu Stadt- oder Landstraßen, weil sich dort weder Fußgänger noch Radfahrer bewegen dürfen und dies auch rigoros geahndet wird. Zudem gibt es keine höhengleichen Knotenpunkte mit kreuzenden Verkehrsströmen, sodass also bestimmte Unfälle gar nicht passieren können. Wenn ich also die Sicherheit deutscher Autobahnen mit der Sicherheit ausländischer Autobahnen vergleichen möchte, so darf ich auch nur Autobahnen miteinander vergleichen und nicht das gesamte Straßennetz.
Internationale Vergleiche zeigen, dass Deutschland in Sachen Verkehrssicherheit mit an der Spitze liegt – trotz fehlenden Tempolimits.
Schwellenländer und Entwicklungsländer mit aufkommender Automobilität zeigen erfahrungsgemäß aus vielerlei Gründen immer eine katastrophale Verkehrssicherheit. Betrachten wir dagegen nur die europäischen Länder, so gibt es durchaus Länder mit geringerer Anzahl von Verkehrstoten auf die Bevölkerung bezogen. Zudem ist die Zahl der Verkehrstoten als Indikator für die Verkehrssicherheit eher ungeeignet, weil dabei Einflussfaktoren hineinwirken, die gar nichts mit Verkehrsregelungen zu tun haben, wie zum Beispiel das Rettungs- und Gesundheitswesen aber auch der prozentuale Anteil gepanzerter Fahrzeuge mit hohem Insassenschutz.
Gepanzerte Fahrzeuge – was meinen Sie damit?
SUVs haben eine größere Fahrzeugmasse und damit – siehe Physik – eine größere Aufprallenergie zur Folge, was vor allem zulasten der schwächeren Verkehrsteilnehmer in Kleinwagen geht, die sich beim nächsten Autokauf zu ihrer eigenen Sicherheit ebenso ein SUV kaufen werden. Damit wird eine Art der Rüstungsspirale in Gang gesetzt, die der Automobilindustrie gute Gewinne beschert.
Also taugt die Statistik, die sich nur auf Verkehrstote stützt, als Argument aus Ihrer Sicht nicht?
Zur Bewertung der Verkehrssicherheit wäre die Zahl der Schwerverletzten oder noch besser die Zahl der Verkehrsunfälle ein besserer Indikator. Zum einen, weil damit auch eine größere statistische Grundgesamtheit zur Verfügung stünde, und zum anderen, weil man mit der Fixierung auf die Verkehrstoten indirekt auch die Qualität unseres Rettungs- und Gesundheitssystems bewertet. Zudem unterschlägt die Fixierung auf die Verkehrstoten als Indikator für die Bewertung der Verkehrssicherheit auch das unsägliche Leid von Unfallopfern, deren Leben gerettet werden konnte, die aber aufgrund ihrer Verletzungen nicht mehr eigenständig leben können. Man kann daher nur sagen, dass es Länder mit vergleichbaren Rahmenbedingungen gibt, die eine höhere Verkehrssicherheit aufweisen.
Wie viel CO2 würde Tempo 130 einsparen? Lohnt sich die Maßnahme klimatechnisch?
Ich glaube, das Geschwindigkeitsniveau liegt auf den deutschen Autobahnen schon deutlich höher als etwa auf österreichischen oder schweizerischen Autobahnen, sodass sich auch wiederum auf Basis der Physik auf entsprechende Energie- und damit auch CO2-Einsparungen schließen lässt, denn auch der Strömungswiderstand bei Fahrt mit konstanter Geschwindigkeit steigt quadratisch an. Es hätte daher auf jeden Fall einen positiven Effekt, wobei ich persönlich vor dem Hintergrund der Brisanz der menschengemachten Klimaerwärmung – ähnlich wie in den Niederlanden – für eine geringere Geschwindigkeit plädiere.
Fragen: Ralf Müller
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Tempo 130 – das bewegende Thema
- Debatte: Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, in dem es kein Tempolimit auf der Autobahn gibt. Eine starke Lobby aus Autofahrern und Konzernen wusste das bislang zu verhindern. Nach den Grünen fordert nun auch die SPD eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 Stundenkilometer. Angeführt werden zwei Hauptargumente: weniger Unfälle und damit auch weniger Tote und Verletzte sowie der Beitrag zum Klimaschutz. Mit Verweis auf bundesweite wissenschaftliche Untersuchungen und internationale Studien heißt es, dass die Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit um fünf Prozent zu einer Minderung der Unfälle um zehn Prozent und einer Reduzierung der tödlichen Unfälle um 20 Prozent führe. Außerdem wird argumentiert, dass ein Tempolimit zu Einsparungen von CO2-Emissionen führe. Außerdem vermindere ein Tempo von über 130 km/h die Reichweite von Elektroautos deutlich.
- Praxistest: In der Debatte um das Tempolimit hat die Versicherungswirtschaft einen großangelegten Praxistest vorgeschlagen. Damit solle geklärt werden, ob ein generelles Tempolimit auf Autobahnen „wirklich zu einem deutlichen Mehr an Sicherheit führt und, wenn ja, wie viel“, sagte der Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Siegfried Brockmann. Bisher seien die Wirkungen eines Tempolimits in Deutschland wissenschaftlich noch nicht umfassend untersucht worden, bemängelte der Experte. In der politischen Debatte suche sich jeder den Befund heraus, der gerade der eigenen Meinung entspreche. (AFP)