Noch immer wälzen sich riesige Wassermassen über den Süden der Ukraine und ertränken das Leben rechts und links der Ufer. 18 Billionen Liter Wasser hatte der Damm unweit der Stadt Cherson gestaut. Sie schießen ungebremst durch ein gewaltiges Loch in der Mauer – eine biblische Flut, ausgelöst von Menschenhand. Es ist eine Katastrophe in der Katastrophe. Selbst wenn der Krieg wie durch ein Wunder zu Ende ginge, wird die Ukraine noch in Jahrzehnten unter den Folgen leiden.

War es der Leichtsinn der Russen, die den Staudamm im vergangenem Jahr unter ihre Kontrolle brachten und ihn seither vernachlässigten? Oder eine bewusste Entscheidung? Hat die russische Armee das Bauwerk mit voller Absicht gesprengt, um den befürchteten Gegenschlag der Ukrainer aufzuhalten? Viele Fragen sind noch offen. Manche sprechen von Materialermüdung, andere von einem Unfall, als die Besatzer unvorsichtigerweise ein blockiertes Schleusentor aufsprengen wollten.

Wo Fachleute die Ursache sehen

Die meisten Experten verwerfen solche Reinwaschungsversuche. Für sie ist die plausibelste Ursache eine Explosion im Inneren der gigantischen Anlage. Genauer gesagt: eine Reihe von Explosionen. Alles andere, so sagen die Fachleute, hätte niemals einen solchen Schaden anrichten können, auch nicht ein Raketenangriff, von dem der Kreml spricht, um die Schuld den Ukrainern zuzuweisen. Das Kachowka-Kraftwerk wurde so konzipiert, dass es einem Atomschlag standhält. Und das soll einfach so zusammenbrechen? Wegen Materialverschleiß? Wegen einer ferngelenkten Rakete? Oder gar aus Zufall?

Kurzum, das Bauwerk war eines der massivsten in ganz Europa. Um es zu zerstören, braucht man die Kontrolle über den Staudamm, Zugang zu den Hohlräumen im Inneren – und jede Menge Sprengstoff. Vor allem aber benötigt man ein Maß an Rücksichtslosigkeit, wie es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu sehen war. Bereits seit Herbst zerbombt die russische Armee in der Ukraine Kraftwerke, Stromversorger und Hochspannungsleitungen, um die Bevölkerung zu zermürben und den Widerstandswillen zu brechen. Es sind Entscheidungen, aus denen Verzweiflung spricht. Nichts fürchtet das Regime in Moskau mehr als eine Niederlage in diesem Krieg. Die Flutwelle verschafft ihm Zeit. Eine 700 Kilometer lange Front zu halten, wäre für jede Armee schwer genug. Jetzt entsteht eine 100 Kilometer lange Wassersperre, die für das ukrainische Militär fast nicht zu überwinden ist. Kiews Gegenoffensive gerät ins Stocken, bevor sie richtig angelaufen ist.

Kann Putin das Blatt noch wenden?

Eine andere Frage ist, ob das reicht, um für Putin das Blatt zu wenden. Für die Ukraine geht es in diesem Krieg um das Überleben der Nation, für die russische Seite um das Überleben des Regimes. Die Folgen für die Motivation der Truppen lassen sich auf dem Schlachtfeld besichtigen. Die ukrainische Armee kämpfte vom ersten Tag an mit dem Mut der Verzweiflung. Putin hingegen hat Schwierigkeiten, seine eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit des Einmarschs zu überzeugen. Deshalb verharmlost er den Krieg als militärische Spezialoperation, deshalb kommt er mit der Aushebung neuer Rekruten nicht voran. Wer kann, drückt sich. Stattdessen werden Privatarmeen, tschetschenische Killer und freigelassene Strafgefangene als Kanonenfutter ins Kriegsgebiet geschickt.

Der Preis dafür heißt Demoralisierung. Sie zerfrisst die russische Kampfkraft von innen heraus. Die Lohnsoldaten von Wagner-Chef Prigoschin feuern auf fliehende Russen, die russische Armee verhört Prigoschin-Leute in Folterkellern, Tschetschenenführer Kadyrow schäumt nach allen Seiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses Zweckbündnis aus Verbrechern und Verrätern vollends zerfällt und Putins Schattenarmeen ihre Wut gegeneinander richten. Für das Kriegsregime in Moskau wäre es der Anfang vom Ende.

Die Angst vor der Atombombe

Je weiter die ukrainische Armee vorankommt, desto näher rückt für Putin dieser Tag. Er wird alles tun, um seinen Untergang abzuwenden. Wozu ist er fähig, wenn es für ihn eng wird? Wer einen Staudamm sprengt, schreckt auch vor einem Atomkraftwerk nicht zurück. Oder vor Atomwaffen, wie viele im Westen jetzt von Neuem befürchten? Wagner-Chef Prigoschin warnt die Ukraine davor, russischen Boden anzugreifen und über die Grenzstadt Belgorod nach Süden zu marschieren, nachdem der Weg über den Dnjepr wegen der Flut versperrt ist. Putin antworte dann mit einer taktischen Atombombe, so seine Ansage. Das mag eine leere Drohung sein, wie meistens, wenn Russland die nukleare Faust zeigt. Ausschließen lässt sich freilich nichts. Der Weg über russisches Staatsgebiet bleibt Präsident Selenskyj versperrt. Er wird die Ukraine in der Ukraine verteidigen müssen, nicht aber in Russland.