Herr Bindig, Sie haben sich als Bundestagsabgeordneter und Berichterstatter des Europarats schon vor mehr als 20 Jahren mit Russland befasst und Putins Aufstieg mitverfolgt. Hat Sie der Einmarsch in die Ukraine überrascht?

Er hat mich überrascht, weil Putin mit dieser Entscheidung jegliches rationales Handeln verlassen hat und zu einem rein imperialistischen Verhalten übergegangen ist. Das war in dieser Form vorher höchstens ansatzweise erkennbar. Viele haben damit nicht gerechnet, auch ich nicht.

Rudolf Bindig
Rudolf Bindig | Bild: Bindig

Überrascht Sie die Brutalität des russischen Vorgehens, gerade im Hinblick auf die Bilder aus Butscha?

In Butscha handelt es sich nicht um eine militärische Operation, nicht einmal um kriegerische Handlungen. Das sind schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die dort neben den Kriegshandlungen stattfinden. Das ist grässlich.

Russland streitet ab, für diese Verbrechen verantwortlich zu sein, und spricht von einer Inszenierung der ukrainischen Regierung. Halten Sie das in irgendeiner Weise für glaubwürdig?

Das ist abwegig, folgt aber einem bekannten Muster der russischen Propaganda. Die Satellitenaufnahmen belegen deutlich genug, was stimmt.

Sie waren vor 20 Jahren als Berichterstatter des Europarats in Tschetschenien. Hat es dort ähnliche Verbrechen durch die russischen Besatzer gegeben?

Schon im ersten Tschetschenien-Krieg zwischen 1994 bis 1996, den der damalige Präsident Boris Jelzin begonnen hatte, ging die russische Armee mit großer Brutalität vor. Grosny, die größte Stadt Tschetscheniens, wurde massiv bombardiert. Dort erfolgten unterschiedslose, wenig gezielte Luftangriffe, denen viele Zivilisten zum Opfer fielen – und das waren ja alles Staatsbürger der russischen Föderation. Putin begann unmittelbar nach seiner Machtübernahme im Jahr 2000 den zweiten Tschetschenien-Krieg, um sich als starker Mann in Russland zu profilieren – mit ähnlich schweren Zerstörungen.

In der ukrainischen Stadt Butscha, 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew, bietet sich nach dem Rückzug der russischen Armee ein ...
In der ukrainischen Stadt Butscha, 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew, bietet sich nach dem Rückzug der russischen Armee ein Bild des Grauens. | Bild: Rodrigo Abd, dpa

Warum das rücksichtslose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung – damals in Tschetschenien, heute in der Ukraine? Hat das eine militärische Bedeutung, eine strategische Absicht?

Das soll die Zivilbevölkerung demoralisieren. Das war in Tschetschenien so, und das ist heute in der Ukraine so. Die Bevölkerung wird gezielt in die militärische Auseinandersetzung hineingezogen. Deshalb muss sie so viel erleiden und so viele Opfer erbringen.

Lässt sich der Krieg in der Ukraine mit dem Tschetschenien-Krieg vergleichen?

In Tschetschenien war die Gemengelage komplizierter als in der Ukraine. Dort gab es einerseits das russische Militär mit Sondereinheiten des Innenministeriums. Es gab aber auch prorussische Tschetschenen, die besonders brutal aufgetreten sind, es gab nationalistische Tschetschenen und es gab islamistisch-terroristische Tschetschenen. Alle haben fürchterlichste Menschenrechtsverletzungen begangen, alle haben in einer Guerilla-Taktik gegeneinander gekämpft. Die schlimmsten Verbrechen wurden von den Russland-freundlichen Tschetschenen verübt, den Kadyrow-Milizen, die jetzt an der Seite Russlands wieder in der Ukraine auftauchen.

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Damals haben Sie eine härtere Gangart gegenüber Moskau gefordert und im Jahr 2003 im Europarat einen internationalen Gerichtshof vorgeschlagen, der die Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte. Sie konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Wer hat da gebremst?

Eine große Mehrheit der 318 Mitglieder des Parlaments des Europarates aus 47 Mitgliedsländern hat die Forderung unterstützt. Aber die Regierungen der Mitgliedsstaaten nahmen den Vorschlag leider nicht auf. Die vorherrschende Meinung war, dass es sich um einer innere Angelegenheit Russlands handle, da Tschetschenien ein Teil der russischen Föderation sei. Irgendwann ist der Vorschlag einfach versandet.

Bundeskanzler in Deutschland war damals Ihr Parteifreund Gerhard Schröder.

Ich war immer der Meinung, dass sich alle Regierungschefs in Europa intensiver mit Tschetschenien befassen sollten, auch Schröder. Man muss aber die Russland-Politik als Ganzes betrachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Logik, die westeuropäischen Staaten so miteinander zu verschränken und die wirtschaftlichen Interessen so eng zu verbinden, dass es nie wieder zu Konflikten oder Kriegen kommen könnte. Als sich Osteuropa 1989 öffnete, hatte man eine ähnliche Hoffnung für den Osten Europas. Die Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt, weil sich der russische Präsident vollkommen irrational verhält und gegen die Interessen seines eigenen Landes diesen Angriff gestartet hat.

Nehmen Sie Schröder seine Freundschaft zu Putin übel?

Eigentlich ist es zu begrüßen, wenn Politiker auch private Kontakte haben. Das muss aber definitiv enden, wenn es um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht.

War Putin von Anfang an so? Oder hat er sich erst im Lauf seiner langen Amtszeit radikalisiert?

Am Anfang gab er zumindest in seinen Äußerungen viele Signale, dass er sich ein kooperatives und friedliches Zusammenleben in ganz Europa vorstellen kann – ich denke etwa an seine Rede im Deutschen Bundestag 2001. Er sprach vom gemeinsamen Haus Europa, in dem jeder seine Entfaltungsmöglichkeiten hat. Nach innen allerdings fing er an, den Staat immer autoritärer zu gestalten. Am Anfang seiner Präsidentschaft war Russland ein relativ demokratischer Staat mit autoritären Einsprengseln. Dann hat er den Staat umgewandelt in einen autoritären Staat mit demokratischen Einsprengseln. Jetzt ist es ein totalitäres System, eine Diktatur.

Sie haben Putin als Repräsentant des Europarats zwei Mal getroffen. Wie haben Sie ihn erlebt? Konnte man mit ihm denn reden?

Beim ersten Mal war er noch nicht russischer Präsident, sondern Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB. Damals unterhielt der Geheimdienst in Russland eigene Gefängnisse, was den Prinzipien und Standards des Europarats widersprach. Das löste er, indem er am Gefängnis ein Schild anbringen ließ, auf dem stand: Außenstelle des Justizministeriums. Dann haben wir mit ihm im Februar 2000, als er gerade Präsident geworden war, über Tschetschenien gesprochen. Er versuchte uns argumentativ klarzumachen, warum ihm nichts anderes übrig bleibe, als Gewalt anzuwenden.

Rudolf Bindig 2004 bei einer Erkundungstour durch den Kaukasus, begleitet von russischen Soldaten.
Rudolf Bindig 2004 bei einer Erkundungstour durch den Kaukasus, begleitet von russischen Soldaten. | Bild: Stefan Voß/dpa

Hat Sie das überzeugt?

Nein, aber es waren zumindest Argumente, die er genannt hat. Tatsache ist, dass er Tschetschenien benutzte, um sich als Präsident mit Grausamkeiten zu profilieren. Das hätte man als Warnung erkennen müssen. Die nächsten Schritte waren der Konflikt in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 und im Jahr darauf das Eingreifen in Syrien mit der Zerstörung Aleppos. Sein Weg zu immer mehr Brutalität wurde immer deutlicher. Vielleicht hat er erst da sein wahres Gesicht gezeigt.

Was trauen Sie Putin noch alles zu?

Tatsache ist, dass ein irrational handelnder Mensch den Finger am Atomknopf hat. Das ist der Grund, warum man weiter versuchen muss, mit ihm zu verhandeln, auch wenn man innerlich empört ist. Ich wage keine Prognose, wie es weitergeht.

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Kann man mit ihm denn verhandeln?

Allein mit Argumenten ist bei ihm gar nichts zu machen. Man muss ihm schon zeigen, dass man einen ganzen Instrumentenkasten zur Verfügung hat, um ihn unter Druck zu setzen. Erst wenn der Schaden im eigenen Land für ihn zu groß wird, wird er einen Ausweg suchen.

Befürchten Sie, dass aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Krieg gegen die Nato werden könnte?

Wir müssen alles tun, dass dieser Konflikt auf die bisherige Region beschränkt bleibt. Das ist die oberste Räson, die unser Handeln bestimmen muss. Sonst wird der Konflikt unbeherrschbar.