Es mag Zufall sein: In der ARD-Mediathek ist seit Kurzem der Film „Die Getriebenen“ wieder verfügbar. Er blickt vor dem Hintergrund der Fluchtbewegungen 2015 „in die Hinterzimmer der Mächtigen, die vor allem eins sind: Getriebene, die zwischen politischer Verantwortung und dem atemlosen Tempo der sich überschlagenden Ereignisse in einer Ausnahmesituation Entscheidungen treffen“, wie es in der Inhaltsangabe heißt. Die Fiktion findet gerade in der Realität ihre Fortsetzung. Titel: Der Getriebene. Hauptrolle: Friedrich Merz, CDU-Chef und Kanzlerkandidat der Union.
Rückblende auf den Abend des 20. Dezember: In Magdeburg rast ein in Saudi-Arabien geborener Mann mit seinem Wagen in die Menge auf dem Weihnachtsmarkt. Sechs Menschen werden getötet, hunderte verletzt. Merz reagiert betroffen. „Das sind sehr bedrückende Nachrichten aus Magdeburg“, schreibt er bei X. „Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ich danke allen Einsatzkräften, die sich vor Ort um die Verletzten kümmern.“
Nach Magdeburg noch Zurückhaltung
Seinen Leuten in der Partei verordnet er Zurückhaltung, er selbst formuliert moderat. „Wir dulden zu viele Menschen in Deutschland, die sich nicht integrieren wollen“, schreibt er in seiner wöchentlichen „MerzMail“. Gleichzeitig differenziert er darin zwischen Einzeltätern aus dem Ausland und den Menschen, die „aus vielen Ländern der Welt zu uns gekommen sind, in Deutschland familiär und beruflich Wurzeln geschlagen haben, und die nicht mit unter den Generalverdacht einer ausländerfeindlichen Stimmung geraten dürfen“.
Der Kanzlerkandidat wirkt nachdenklich, seine Botschaft ist klar: Der Anschlag von Magdeburg soll nicht den Wahlkampf prägen.
Plötzlich kein Einzelfall mehr
Vergangenen Mittwoch in Aschaffenburg. Ein Afghane ersticht einen Zweijährigen und einen 41 Jahre alten Mann, weitere Menschen werden verletzt. Wie der Attentäter von Magdeburg hat er offiziellen Angaben zufolge psychische Probleme, beide sind vorher auffällig geworden, die Behörden wussten Bescheid, zogen aber weder den einen noch den anderen aus dem Verkehr.
Diesmal lässt Merz jede Zurückhaltung fahren. Wenige Stunden nach der Messerattacke sieht er eine „neue Qualität einer völlig enthemmten Brutalität in Deutschland“. Plötzlich ist auch Magdeburg kein Einzelfall mehr, sondern Teil einer Kette, eines Musters. „Ich weigere mich anzuerkennen, dass die Taten von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg die neue Normalität in Deutschland sein sollen.“
Merz verschärft Ton weiter
Der CDU-Chef und Unions-Fraktionsvorsitzende verschärft den Ton danach im Stundentakt. „Unserem Land wächst das Flüchtlingsproblem über den Kopf“, schreibt er in einer weiteren „MerzMail“. Plötzlich sind es nicht mehr einzelne Täter, es sind die Ausländer in Summe. Merz identifiziert „traumatisierte, alkohol- und vor allem drogenabhängige junge Männer“ als die größte Problemgruppe.
Merz fasst seine Ideen zur Asylpolitik in einem „Fünf-Punkte-Plan“ zusammen, er geht wie selbstverständlich davon aus, dass SPD und Grüne ihn mittragen. Doch die weichen entsetzt zurück, identifizieren Verstöße gegen geltendes Recht.
Die CDU wird unsicher
Am heutigen Mittwoch will Merz seinen Plan als Antrag ins Parlament einbringen. Es ist eine direkte Reaktion auf die Regierungserklärung, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) vorher hält. Was ein Befreiungsschlag werden soll, droht mangels Unterstützung jedoch wirkungslos zu verpuffen. Und um ihn herum wird die bis dahin siegessichere CDU unsicher und mutlos.
„Das ist alles nur noch eine große Scheiße“, sagt einer aus der CDU-Spitze. Andere benutzen Wörter wie „Mist“ oder „Abgrund“. Gemeint ist die Lage, in der sich die Partei jetzt befindet. Gemeint ist die Lage, in die Friedrich Merz sie gebracht hat.
In einer am Dienstag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ist die Union zeitweise um drei Zähler auf 30 Prozent abgerutscht. Die Umfrage deckt den Zeitraum nach Aschaffenburg ab und lässt den Schluss zu, dass sich die Merz‘sche Kurswende hin zu einer harten Asylpolitik für ihn nicht auszahlt.
Merz dringt auf TV-Auftritte mit Alice Weidel
Zum Entsetzen seiner Wahlkampfstrategen dringt Merz auf gemeinsame TV-Auftritte nicht nur mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck, sondern auch mit AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Das sei „seine feste Absicht“, sagte er dem Medienhaus WMH. Seine Begründung sagt viel aus über den 69-Jährigen.
„Eine Diskussion zu viert ist für die Wählerinnen und Wähler sicher erhellend“, erklärte Merz. Das ist nett gemeint, offenbart aber ein steinzeitliches Medienverständnis. Als es nur drei Programme gab, funktionierte diese Art der Meinungsbildung noch. Inzwischen gibt es eine Vielzahl anderer Informationskanäle.
Niemand in Partei und Fraktion stellt Merz offen infrage. Aber es grummelt, einige zweifeln an, dass er der richtige Kandidat ist. Ihre Sorge gilt nicht nur der derzeitigen Situation, sondern auch der Zeit nach dem 23. Februar. Mit wem will Merz regieren, wenn er tatsächlich Kanzler wird? SPD und Grüne lehnen seine Asylpolitik ab, diese Tür ist schon mal zu. Die FDP wäre dabei, aber sie schafft es womöglich gar nicht erneut in den Bundestag. Nimmt Merz am Ende doch eine Duldung durch die AfD in Kauf, um ins Kanzleramt zu kommen?
„Das, was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch dadurch, dass die Falschen zustimmen“, hat Merz mehrfach betont. Das bezieht sich derzeit noch auf die Abstimmungen im Bundestag. Es lässt sich jedoch auch auf die nächste Kanzlerwahl übertragen.