Der Lwiwer Hauptbahnhof erzählt im Neoklassizismus und mit Jugendstilelementen von Bürgerstolz, vom Aufbruch in ein neues Jahrhundert und einer Zeit, als Lwiw noch Lemberg hieß, eine Metropole im Habsburger Reich. Doch die Reisenden, die am Pianospieler vorbeiziehen, sind keine Touristen. Sie kommen nicht, um ein paar Tage in einer schönen Weltkulturerbestadt zu verbringen. Sie eilen nicht mit dem Koffer in der Hand vorbei, um schnell zum Zug zu kommen. Sie bewegen sich im Schneckentempo Richtung der Gleise, die sie ins nahe Polen oder nach Ungarn bringen sollen. Und sie strömen dichtgedrängt mit ihren Habseligkeiten aus dem Gebäude, wenn Züge sie aus umkämpften Städten nach Lwiw bringen.
Weit vor dem Bahnhofsgebäude beginnt die Warteschlange der Ausreisenden, die sich über Hunderte von Metern quer durch den Bahnhof bis zu den Gleisen zieht. In ihren Koffern und Rucksäcken haben die Flüchtenden Pässe, ihre wichtigsten Dokumente und die notwendigste Kleidung dabei. Auch Menschen aus Lwiw verlassen mittlerweile die Stadt. Väter umarmen dann vor dem Bahnhof vielleicht für lange Zeit das letzte Mal Frau und Kind. Sie können ihr Familien nicht begleiten. Wehrfähigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist die Ausreise aus der Ukraine nicht gestattet.
16-Jährige Flüchtende: „Es war schwierig, aber wir haben keine Angst“
Die 16-jährige Alina aus Dnipro ist schon seit vier Tagen mit ihrer Mutter unterwegs. Vier Tage Kälte, Menschenmassen, Angst, Gedränge und wenig Schlaf. „Es war schwierig, aber wir haben keine Angst“, sagt sie tapfer. Der Bahnhof in Lwiw bedeutete für Alina die Ankunft in einer vorläufigen Sicherheit. 200.000 Binnenvertriebene wie Alina haben derzeit in der westukrainischen Stadt Zuflucht gefunden. In einer Stadt, die zuvor weniger als eine Million Einwohner zählte. Über 2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind aufgrund des russischen Überfalls schon aus dem Land geflohen. Wie viele Tausend Tag für Tag am Lwiwer Bahnhof ankommen und abfahren, das kann in dem Chaos wohl keiner sicher sagen.
Alina müht ein Lächeln in ihr Gesicht. Es fällt ihr nicht leicht. „Morgen werde ich 17. Dann bin ich wohl schon in Polen. Stellen Sie sich doch vor, ich bin dann das erste Mal in meinem Leben im Ausland“, sagt der Teenager. Polen ist das Ziel von Mutter und Tochter. Nur das Land, keine Stadt, keine Adresse, zu der sie wollen oder können. „Verwandte und Freunde haben wir wie viele andere Ukrainer dort leider keine. Aber es wird doch nicht länger als eine Woche dauern, da bin ich mir sicher“, sagt Alina. Ihre Mutter blickt traurig, als sie ihre Tochter hört. Dann können beide aufrücken, sie stehen nun an der ersten Treppenstufe am Eingangsportal. Zum Gleis sind es noch gut 350 Meter.
Einige Ukrainer fliehen mit ihren Haustieren
Rund 50 Meter entfernt zittert Berti trotz seinem Pulli-Überzieher mit Rollkragen. Berti ist ein vermutlich nicht ganz reinrassiger Chihuahua, und Tatjana drückt den kleinen Vierbeiner ans Herz. „Berti kann kaum verstehen, was hier passiert“, meint sie und streichelt dem Hund über den kleinen Kopf. „Aber wer von uns Menschen kann das schon. Es ist alles wie in einem bösen Traum. Nichts ist plötzlich mehr so wie zuvor“, fügt sie hinzu. Tatjana lebte mit ihrer Familie in einem Vorort von Kiew. Dann schlugen die ersten Granaten im Nachbarviertel ein.
„Wir hörten die Explosionen. Da wusste ich, dass wir nicht mehr sicher sind. In der Türkei leben und arbeiten Verwandte, deshalb versuchen wir, dorthin zu kommen“, sagt die 37-Jährige. Dann schweigt sie kurz und atmet tief durch. „Es ist schwer, noch Kraft zu finden“, fügt sie hinzu und kämpft mit den Tränen.
Krieg sorgt unter Ukrainern für Zusammenhalt
Abseits der Warteschlange ist ein kleines Zeltdorf entstanden. Zivilschutz-Helfer bereiten Eintopf in einer Gulaschkanone zu. Aus einem mächtigen Topf dampft es gewaltig. Mit einem großen Holzprügel rührt der Koch durch die dicke rote Suppe. Das Rote Kreuz verteilt den Eintopf im benachbarten Zelt in Pappbechern.
Viele Ukrainer und Ukrainerinnen melden sich als Freiwillige bei Hilfsorganisationen oder gründen eigene Initiativen. Der Krieg, mit dem Putin sein kleines Nachbarland überzogen hat, zeigt eine starke ukrainische Zivilgesellschaft. Ein Zusammenhalt, auf den die Menschen zu Recht stolz sind. Rotkreuzhelfer Oleg verteilt neben dem Eintopf belegte Brötchen. Der 47-Jährige zählt zu den 200 Ehrenamtlern, die sich seit Beginn der Invasion spontan dem lokalen Roten Kreuz angeschlossen haben. Oleg hat lange Zeit in Franken gelebt, berichtet er. „Grüßen Sie mir Deutschland“, sagt er lächelnd. „Die spontanen Freiwilligen unterstützen unser bestehendes Ehrenamtlichen-Team von 50 Helferinnen und Helfer bestens. Für uns als Rotes Kreuz gilt es jetzt, eine gewaltige Herausforderung zu stemmen“, erklärt Ulyana Stelmakh, die Chefin des Lwiwer RK-Oblastverbands.
Was die Menschen brauchen? „Mut“, sagte eine Helferin
Manche der Helfer sind selbst Vertriebene. So wie Kateryna, die aus Kiew geflohen ist. Die 30-Jährige schrieb als Journalistin über die Raumfahrt, jetzt füllt sie den Eintopf in Becher und reicht sie mit einem Lächeln an die Wartenden weiter. „Zuerst wusste ich vor lauter Angst nicht ein und aus. Dann wurde mir klar, es ist wichtig, etwas zu tun. Für mein Land und seine Menschen da zu sein. Viele helfen wie ich. Ein Freund hat eine kleine Spendenkampagne gestartet und 3000 Euro für Medikamente gesammelt. All das gibt uns, was wir jetzt brauchen: Mut“, erklärt die junge Frau. „Wenn dieser Krieg vorbei ist, besuchen Sie doch die Sophienkathedrale. Meine Heimatstadt ist eine wunderschöne europäische Stadt. Und ich glaube fest an ein gemeinsames Europa“, sagt die 30-Jährige zum Abschied.
In den Abendstunden kehrt ein wenig Ruhe ein. Die lange Schlange vor dem Bahnhof ist verschwunden. Das Rote Kreuz verteilt weiter Brötchen, die Feldküche dampft schon für den morgigen Tag. In Fässern brennen Feuer als Wärmeplätze. Auch einige Obdachlose nutzen sie in den kalten Winternächten und freuen sich über eine heiße Suppe. Sie haben ihr Zuhause schon vor langer Zeit verloren.