Wer an Baden-Württembergs Wirtschaft denkt, dem kommen schnell Konzerne wie Daimler, Porsche, Audi, Bosch, ZF, Voith oder Zeiss in den Sinn. „Der Südwesten wird immer noch in erster Linie mit der Automobilindustrie und dem Maschinenbau identifiziert“, sagt Gerhard Halder, Wirtschaftsgeograf an der Universität Tübingen. So ganz stimme das aber nicht. Zwar sei die Abhängigkeit von klassischen Metallbranchen hoch, der Südwesten habe aber noch andere Industriestandbeine zu bieten. Eines der wichtigsten: die Pharmabranche.
Tatsächlich gibt es in Baden-Württemberg fast keine Ecke, in der Pharmafirmen oder Hersteller von medizintechnischen Produkten nicht in nennenswerter Zahl ansässig wären. Das Sprichwort, wonach es sich bei Baden-Württemberg eigentlich um „die Apotheke Deutschlands“ handelt – es stimmt. Rund ein Viertel aller Pharma-Beschäftigten im Bundesgebiet arbeitet zwischen Weinheim und Konstanz. Allenfalls noch Hessen verfügt über eine vergleichbare Ansammlung von Firmen und Arbeitsplätzen. Die aktuell rund 37 500 Branchenbeschäftigten im Südwesten treiben die Industrieumsätze jährlich um 13,3 Milliarden Euro nach oben. „Dem Pharmasektor im Land geht es gut“, sagt Andreas Fehler, Sprecher der Chemieverbände Baden-Württemberg. Innerhalb der Chemie-Branche seien es oft die Pharmafirmen, die sich besonders positiv entwickelten. Anders als etwa in Hessen, wo große Konzerne wie Merck oder Fresenius ihren Sitz haben und sich die Unternehmen an bestimmten Standorten ballen, ist der Pharma-Sektor in Baden-Württemberg stark mittelständisch geprägt. „Oft findet man auch im hintersten Winkel des Landes noch einen Hersteller, der auch im weltweiten Geschäft mitspielt“, sagt Wirtschaftsgeograf Halder.
Ohne das Unternehmen Bipso aus Singen, das nur Fachleuten ein Begriff ist, könnte beispielsweise die hoch technisierte Apparatemedizin einpacken. Der Grund: Das Unternehmen stellt nach eigenen Angaben rund ein Drittel der weltweit eingesetzten Kontrastmittel her, ohne die die gestochen scharfen Bilder von Kernspinn- oder Magnetresonanztomografen wie eine trübe Soße daherkommen würden.
Freiburg wiederum ist das deutsche Pillen-Drehkreuz des US-Konzerns Pfizer und insbesondere für seine Krebsmedikamente und Schmerzmittel bekannt. Mit einer Jahresproduktion von sechs Milliarden Drops toppt das 900-Mitarbeiter-Werk so manches asiatische Fertigungszentrum. Die Pillenproduktion des Schweizer Konkurrenten Novartis nebenan in Wehr kommt mit einer Jahresmenge von rund einer Milliarde Einheiten an Diabetes- oder Herz-Kreislauf-Mitteln da schon fast mickrig daher. Auch Bayer aus Leverkusen produziert am Hochrhein. In Singen am Bodensee wiederum hat der japanische Pharmahersteller Takeda die Produktion seines Magen-Bestsellers Pantoprazol in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgeweitet. Ähnliches passiert bei Boehringer Ingelheim in Biberach an der Riß, wo mittlerweile mehr als 5200 Menschen arbeiten und an biotechnologisch hergestellten Arzneien forschen.
Rückschläge gibt es indes auch. Dass Takeda vor einigen Jahren seine Forschung weitgehend aus Konstanz abgezogen hat, schmerzt die Bodenseemetropole noch heute. Ebenso wie die für 2019 angekündigte Werkschließung des Konstanzer Creme- und Zäpchenspezialisten Dr. Kade. Weiter rheinabwärts sind die Tage der Salbenproduktion in Wehr gezählt. Bis März 2018 wird Novartis die Fertigung so bekannter Produkte wie Voltaren nach Großbritannien zum Industriepartner Glaxo Smith Kline (GSK) verlagern. 160 von 520 Arbeitsplätzen sollen bis 2022 wegfallen. Und Colgate hat sein Zahnpasta-Werk in Lörrach (Elmex, Meridol) schon vor Jahren nach Polen verlagert.
Einen Aderlass auf breiter Front sehen Experten dennoch nicht. Unter Produktionsverlagerungen nach Asien litten vor allem die übrigen EU-Staaten, weniger aber Deutschland, sagt Jasmina Kirchhoff, Pharmaexpertin beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Dem deutschen Standort bleiben die allermeisten Unternehmen treu. Zuletzt sei es bundesweit sogar verstärkt zu Rückverlagerungen aus dem Ausland gekommen. Qualität und Lieferfähigkeit stimmten anderswo einfach nicht immer. Allerdings setzen knappe staatliche Pharmabudgets und Kostensenkungen im Gesundheitswesen der Branche durchaus zu. Vor allem Lohnhersteller von Medikamenten sowie Produzenten von Nachahmerpräparaten ohne eigene Patente stehen unter Druck. Forschende Pharmafirmen wiederum geraten durch deutlich gestiegene Entwicklungszeiten und -kosten für neue Wirkstoffe in die Bredouille. Die Folge sind deutlich sichtbare Konzentrationsprozesse. In keinem anderen Wirtschaftszweig gebe es weltweit so viele Firmenübernahmen und Zusammenschlüsse wie in der Pharmaindustrie, heißt es in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Auch Pharma-Experte Fehler erkennt eine zunehmende „Arrondierung der Produktionsstätten“, auch in Baden-Württemberg.
Mit guten Ideen hat man aber immer noch Erfolg. Die aus einer Forschergruppe der Uni Freiburg entstandene Firma Chem-Con hat sich beispielsweise in den 20 Jahren ihres Bestehens zu einem echten Mittelständler mit fast 100 Mitarbeitern gemausert. Chem-Con hat sich auf die kostengünstige Herstellung von seltenen Spezialwirkstoffen in Kleinstmengen spezialisiert – ein Geschäft, das die Konzerne links liegen lassen. Gleichzeitig ist der Ansatz aber extrem existenziell – im Wortsinn. So könnten exotische Medikamente, die nur von ganz wenigen Patienten jährlich benötigt würden, überhaupt noch angeboten werden, sagt Cem-Con Marketing-Chefin Angelika Bull. Dabei geht es beispielsweise um Krebsmedikamente aber auch Arzneien für die Notfallmedizin.
Und es gibt noch einen exotischen Bereich, in dem Baden-Württemberg ganz vorne mitmischt. Bei der Herstellung pflanzlicher und homöopatischer Mittel ist man europaweit führend. Dafür stehen Hersteller wie Wala, Weleda, Heel, Staufen-Pharma, DHU oder Helixor. Deren Geschäft wächst. Mit besonders schonenden Wirkstoffen fahren die Unternehmen Millionenumsätze ein. Damit hätten sie sich zu einem „Aushängeschild“ des Südwestens entwickelt, sagt Experte Fehler.
Pharmariese Deutschland
- Wettbewerb: In den 1990er-Jahren war Deutschland noch drittgrößter Produzent von Arzneimitteln hinter den USA und Japan, sagt Jasmina Kirchhoff vom Forschungsinstitut IW in Köln. Später lag man auf Platz 5 hinter den USA, Japan, Frankreich und UK. Im Jahr 2016 arbeitete man sich wieder auf Platz 4 hinter den USA, Japan und China vor. Nach wie vor ist Deutschland der größte Binnenmarkt für Arzneimittel in Europa.
- Innovation: Die forschenden Pharmafirmen investieren rund 18 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Im Autobau liegt dieser Wert bei zehn Prozent, im Maschinenbau bei sechs Prozent.
(wro)