Als Andreas Jäkel im SÜDKURIER von den Forderungen Marcel Fratzschers gelesen hatte, sei für ihn sofort klar gewesen, dass er das nicht unkommentiert lassen könne. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) forderte im Interview mit dem Spiegel ein verpflichtendes soziales Jahr für Rentner. Bei Jäkel und seiner Frau Annette Weimer-Jäkel kam beim Lesen dieses Vorschlags sofort der Gedanke auf: „Haben wir eigentlich nichts geleistet in unserem bisherigen Berufsleben, dass wir jetzt noch weiter arbeiten sollen?“
Unbezahlte Überstunden gehörten früher zum Alltag
Aus diesem Grund entschied sich Jäkel, einen offenen Brief an Fratzscher zu schreiben. Darin legt er dar, warum er dessen Gedankengang für falsch hält – und warum er und seine Frau das Gefühl haben, genug gearbeitet zu haben. Das in Konstanz wohnhafte Ehepaar steht kurz vor der Rente. Er wird Ende September 66 Jahre alt, möchte im Mai kommenden Jahres in Rente gehen. Er freut sich schon darauf, dann seiner Kreativität beim Malen und Schreiben freien Lauf zu lassen.
Weimer-Jäkel ist 64 Jahre alt, hat 45 Beitragsjahre – sie möchte aufhören, solange sie noch das Gefühl habe, sie sei noch fit und könne weiterhin zum Sport gehen oder sich im Chor engagieren. Ihr fehlt bei den Vorschlägen von Fratzscher die Wertschätzung einer Lebensleistung. Sie habe mit 17 Jahren angefangen, Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen – „wir Baby-Boomer haben eine Menge zum Wohlstand und sozialen Sicherungssystem beigetragen.“

Die Debatte werde ihrer Meinung nach zu oberflächlich geführt. Ihr Mann stimmt ihr zu: „Ich glaube, viele vergessen, dass die Arbeitsbedingungen heute ganz anders sind. Sowohl ich als auch meine Frau haben damals ständig unbezahlte Überstunden gemacht.“ Doppelschichten, kaum Schlaf, kurzfristig Einspringen für kranke Kollegen – all das sei erwartet worden.
Jäkel machte eine Bäckerlehre, während seines darauffolgenden Medizinstudiums arbeitete er weiterhin 16 Stunden pro Woche in Bäckereien, heute ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, hat 33 Jahre in die Ärzteversorgung eingezahlt. Dass dieses Arbeitspensum nicht förderlich für sein Privatleben gewesen sei, gibt er offen zu: „Dadurch wurden auch Beziehungen mit Freunden oder Familie in Mitleidenschaft gezogen.“
„Ein Keil wird zwischen Jung und Alt getrieben“
Seine Frau Annette Weimer-Jäkel hat zwei Kinder 12 Jahre lang allein großgezogen, währenddessen teilweise Vollzeit gearbeitet, heute ist sie Berufstherapeutin. Sie sagt: „Es wird immer so getan, als hätten wir damals den Himmel auf Erden gehabt, das ist aber einfach inhaltlich falsch. Und wenn einem dann – wie durch den Vorschlag von Herrn Fratzscher – das Gefühl vermittelt wird, man hätte zu wenig gearbeitet und muss jetzt noch nachsitzen, dann ist das massiv kränkend und verletzend.“ Was sie besonders stört: „Mit solchen Äußerungen wird nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen und ein Keil zwischen Jung und Alt getrieben.“
Es gehe dann schnell nur noch darum, wer mehr für die Gesellschaft getan habe. Aber das sei gar nicht der Punkt, sagt Weimer-Jäkel: „Die junge Generation leistet viel und wir haben auf andere Art und Weise viel geleistet. Ich bin froh, dass die jungen Generationen viele Errungenschaften im Arbeitsleben haben, die wir nicht hatten. Das sollte aber nicht gegen uns verwendet werden.“
Zu wenig Kinder bekommen? „Nicht unsere Schuld“
Alternative Ideen, um das Defizit in der Rentenkasse anzugehen, hat das Ehepaar auch. „Was ist zum Beispiel mit den Beamten? In anderen Ländern zahlen die auch in die gesetzliche Rente ein“, sagt Andreas Jäkel. „Außerdem hätte man sich schon viel länger um eine sinnvolle Arbeitsmigration bemühen müssen.“ Und seine Frau hält eine Reichensteuer für sinnvoll, um die klammen Kassen aufzubessern. Ein Grund dafür, dass das Geld fehlt, ist der demografische Wandel – weswegen Fratzscher den Älteren vorwirft, viel zu wenige Kinder bekommen zu haben.

Annette Weimer-Jäkel hält dagegen: „Sind wir jetzt also schuld, dass die Antibabypille eingeführt wurde und Frauen vielleicht auch ganz gerne arbeiten würden? Abgesehen davon, dass der demografische Wandel schon lange abzusehen war und komplett verschlafen wurde.“
Versäumnisse beim Umweltschutz lastet Marcel Fratzscher den Baby-Boomern ebenfalls an. Auch das kann das Paar nicht nachvollziehen. „Da möchte ich gerne mal den Fußabdruck von jungen Leuten mit meinem vergleichen. Natürlich bin ich auch schon geflogen – aber Work and Travel und nach dem Abitur nach Australien fliegen, das gab es bei uns damals nicht“, sagt Weimer-Jäkel. Sie freue sich über die Möglichkeiten, die der jungen Generation offen stünden, für sie sei das damals aber utopisch gewesen. Und ihr Mann? „In Berlin bin ich nur U-Bahn und Fahrrad gefahren, zu Demonstrationen gegen die Nutzung von Kernenergie bin ich getrampt.“
Ehepaar kann Frust nachvollziehen
Oftmals werde aus Sicht des Paares vernachlässigt, wie früh sie begonnen hätten zu arbeiten, während heutzutage ein Einstieg ins Berufsleben auch erst mit Ende 20 keine Seltenheit sei. Trotzdem können beide den Frust der jungen Leute nachvollziehen: „Mir tut das natürlich leid, dass junge Leute womöglich bis 70 arbeiten müssen“, sagt Weimer-Jäkel.
Auf den offenen Brief des Ehepaares hat Marcel Fratzscher nicht reagiert, eine Anfrage des SÜDKURIER ließ er ebenfalls unbeantwortet. Andreas Jäkel und Annette Weimer Jäkel ging es weniger um eine Antwort – als darum, dass die Debatte endlich in die richtige Richtung laufen müsse. Miteinander, statt gegeneinander, dies sei der einzige Weg, um den Generationenkonflikt zu lösen.