Herr Füglistaler, Sie sind oft in Deutschland unterwegs. Fahren Sie da auch gerne mit der Bahn?
Ich fahre fast immer mit der Bahn und das auch sehr gerne. Aber in der Tat hat es in letzter Zeit in Deutschland nicht immer nur Freude gemacht.
Sie spielen auf das Problem der vielen Baustellen und Verspätungen an?
So ist es. Der große Vorteil des Verkehrsmittels Bahn ist neben dem Komfort die Berechenbarkeit. Eigentlich weiß man immer genau, wann man wo ankommt. Wenn das verloren geht, ist das wirklich für die Kunden eine Zumutung.

Sie kennen sicher die Herausforderungen, vor denen die Deutsche Bahn (DB) steht – also immer mehr Menschen auf einer Infrastruktur befördern zu müssen, in die jahrzehntelang zu wenig Geld geflossen ist. Können Sie die deutschen Probleme nachvollziehen?
Ja, ich kenne die Verhältnisse gut, aber man sollte es sich auch nicht zu leicht machen. Die Herausforderung in Deutschland ist es, die vielen Baustellen gut in den Fahrplan einzubeziehen und die Projekte zügig durchzuziehen. So lassen sich die Beeinträchtigungen für die Kunden in Grenzen halten. Enorm wichtig ist es, Eingriffe in den üblichen Schienenverkehr den Kunden transparent zu machen und sie gut zu kommunizieren.
Wir in der Schweiz sagen den Kunden in aller Regel, wo es zu Einschränkungen kommt, sodass sie gut planen können. Ich glaube, hier liegt ein Schlüssel: auch in Zeiten vieler Baustellen die Akzeptanz des Verkehrsträgers hoch zu halten. Dazu kommt eine große Sorgfalt und Termintreue in Planung und Umsetzung der Maßnahmen.
Mit einem neuen Vorstoß, dem Korridor-Konzept, das man sich von Österreich abgeschaut hat, will die DB pünktlicher werden. Ist der Ansatz richtig?
Der Weg ist richtig und muss gegangen werden. Sein Kern ist es, Baustellen zu bündeln und die verschiedenen Arbeiten, die an Strecken anfallen, so zu takten, dass möglichst wenige Beeinträchtigungen des Verkehrs nötig sind. Da geht es auch um eine bessere Abstimmung der Arbeiten aufeinander. Auch wir in der Schweiz arbeiten so.

Würden Sie der Aussage zustimmen, dass die DB mit ihren dutzenden Untergesellschaften, Geschäftsfeldern und mehr als 200.000 deutschen Mitarbeitern ziemlich unregierbar ist?
Ich sage es einmal andersherum. Im Vergleich zur DB ist die schweizerische SBB die Bahn eines kleinen Bundeslands – viel überschaubarer strukturiert und leichter zu führen. Von außen betrachtet erscheint die DB aber tatsächlich sehr, sehr komplex, wenn nicht überkomplex.
Woran liegt diese Komplexität?
Das hat mit falschen Prämissen zutun. Aus meiner Sicht muss das Bahngeschäft immer im Zentrum stehen, was man bei der Deutschen Bahn zumindest anzweifeln könnte. Denn im Konzern gibt es so viele andere Geschäftsfelder, die vielleicht spannender und sogar gewinnträchtiger sind, aber vom Kern des Beförderungsauftrags für Personen und Güter ablenken.
Das führt dann dazu, dass sich das Management um all die anderen Sachen kümmert oder kümmern muss. Zudem sehe ich die Tendenz, dass Entscheidungen bei der DB zentralisiert werden, anstatt Verantwortung in den Regionen zu belassen. Ein Bahnunternehmen ist aber per Definition ein dezentrales Gebilde. Da kann nicht nur in Berlin entschieden werden.

Der Ausbau der Rheintalbahn ist in Verzug. Und jetzt drohen auch auf der zweiten Nord-Süd-Verbindung durch Baden-Württemberg, der Gäubahn, Fahrzeitverlängerungen. Was sagt die Schweiz dazu?
Was die Rheintalbahn angeht, spüre ich, dass es jetzt vorwärts geht. Auf deutscher Seite werden die Planungen vorangetrieben, im Raum Basel wird viel gebaut. Das stimmt mich zuversichtlich. Anders verhält es sich bei der Gäubahn. Es gibt Projekte, die sind einfach von Anfang an verknorzt und irgendwann funktioniert es gar nicht mehr. An der Gäubahn kristallisieren sich aus meiner Sicht viele Probleme des deutschen Bahnverkehrs heraus.
Was meinen Sie genau?
Aus meiner Sicht hapert es an den zersplitterten Zuständigkeiten. Bei der Gäubahn haben die DB, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart etwas mitzureden. Nicht immer sind deren Interessen deckungsgleich, auch was die Finanzierung angeht.
In der Schweiz scheint mir das konsistenter geregelt zu sein. Für alle Bahnprojekte führt das Bundesamt für Verkehr den Prozess und bindet die Kantone und die SBB ein. Dann entscheidet das Parlament verbindlich und es wird gebaut. Anders als in Deutschland werden bei uns die politischen Entscheide am Ende immer auf Bundesebene gefällt, nicht durch die SBB oder die Kantone. Blockaden wie in Deutschland sind daher viel unwahrscheinlicher.
Welche Auswirkungen haben die Verzögerungen für die Schweiz?
Wir sind natürlich nicht zufrieden mit der Situation, weil es unser Ziel ist, die internationalen Verbindungen auszubauen und so auch mehr Menschen in der Schweiz auf die Schiene zu bekommen. Auch uns wirft das zurück. Im Moment gibt es für die Gäubahn aber weder eine Lösung noch einen Zeitplan. Das schafft eine riesige Unsicherheit.

Macht das Milliarden teure deutsche 9-Euro-Ticket Sinn?
Das Gute daran ist, dass das 9-Euro-Ticket Bahnfahren ins Bewusstsein der Menschen bringt. Es muss jetzt aber auch etwas folgen. Bei der Verkehrswende sprechen wir nicht von drei Monaten, sondern von 30 Jahren. 1992 hat die Schweiz der Alpeninitiative zugestimmt, deren Ziel es war, den Güterverkehr auf die Bahn zu verlagern. Jetzt, 30 Jahre später, stellen sich die Erfolge ein. Daran sieht man, dass Bahnpolitik etwas sehr Langfristiges ist. Das vermisse ich in Deutschland. Mir fehlt da die klare Vorwärtsstrategie.
Stimmt es, dass Deutschland nun mal Autoland ist und die Schweiz Bahnland?
Das ist so und von der Industriestruktur her bedingt. Die Schweiz hatte nie eine Automobilindustrie wie Deutschland, eine Bahnindustrie aber sehr wohl. Das kommt uns jetzt bei der Diskussion um klimaneutrale Verkehre zugute. Denn die Zukunft liegt aus meiner Sicht klar bei der Bahn. Auch wir in der Schweiz haben ein ungebremstes Verkehrswachstum und die Anzahl der Staustunden steigt. Aber hier haben Sie immerhin die Möglichkeit, auf fast allen Strecken die Bahn als konkurrenzfähiges Verkehrsmittel zu nutzen. Daran arbeitet Deutschland im Moment noch.