Zwei Grenzgänger der deutschsprachigen Kulturgeschichte treffen sich, zwei Ikonen der Novembernebel-Melancholie, zwei absolut extreme Typen: Büchners Lenz und Schuberts Winterreisender. Gastregisseurin Katrin Hilbe bringt sie auf der Bühne des Konstanzer Stadttheaters zusammen. „Fremd bin ich eingezogen“ heißt es dort in einem knapp eineinhalbstündigen Stück von Antonia Beermann für drei Personen, einen Flügel und jede Menge Koffer. Ganz schön mutig, diese Wahl des Sujets; zahlreich sind die Fallstricke, die ein Ensemble da umschiffen muss.
Zum einen: Georg Büchners „Lenz“ und Franz Schuberts „Winterreise“ haben in der Regel beim Bildungspublikum geradezu kultischen Stellenwert. Zweitens: Beide Werke lassen sich kaum zeitgeistig ironisch brechen, sie sind verstörend, schwermütig und vor allem introvertiert. Wer denkt denn da an die große Bühne? Und zum Dritten wäre da noch die Frage nach der musikalischen Umsetzung. Höher als bei der „Winterreise“ kann die Latte kaum liegen. Ach ja und viertens, was ist eigentlich mit denjenigen, die Texte und damit auch Bezüge nicht so parat haben?
Die Skepsis sitzt also mit im Theatersessel, wenn die Scheinwerfer den Blick auf die Szenerie freigeben. Nach und nach tauchen die Protagonisten auf, winden sich aus den Gepäckstücken, die sich als Metapher für innere und äußere Lebensreise auf der Bühne stapeln. Vincent Heppner deklamiert bruchstückhaft den Beginn von Büchners Erzählung. Wolfgang Erkwoh singt zornig, fast schon im Sprechgesang das Titelstück „Gute Nacht“, erste Nummer von Schuberts Zyklus. Die Pianistin Sophie Nawara begleitet, trocken, rasch im Tempo, lapidar. Im Hintergrund eine Art Grundrauschen und mehr oder weniger nachvollziehbare Projektionen an der Rückwand. Geht das gut?
Auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein muss, was diese Inszenierung aufbietet – eine pathetische Überfrachtung ist bisweilen nicht zu leugnen –, es gelingt in einer Art assoziativen Reihung, die Seelenverwandtschaft der Werke erlebbar zu machen. Die Autorin verzichtet weitgehend auf einen zusätzlichen Überbau. Den Texten wird keine Handlung aufgepfropft, und es entsteht auch kein klassischer Spannungsbogen. Man vertraut auf die Kraft der Worte, die Poesie des Klavierparts, die Verdichtung der Atmosphäre durch die Projektionen – und vor allem die Darsteller, die Enormes leisten.
Sie rücken in einer Deklamation voller Rhythmen, leitmotivischer Wiederholungen und wechselnder Lautstärken Büchners Text in die Nähe der Musik; die Lieder Schuberts hingegen gewinnen in einer überraschend nüchternen Interpretation gleichfalls deklamatorische Qualität. Ganz natürlich scheint das, was Erkwoh und Nawara aus der „Winterreise“ machen, fast eine Brecht/Weill-Nummer, die oft unter die Haut geht.
Literarische Bezüge finden sich sowieso zuhauf. Sich und der Welt fremd zu sein, eint die beiden Kunstfiguren in Büchners Text und Schuberts Liedern. Beides überlagert sich zusehends. Zwischendrin erklingt der „Lindenbaum“ aus dem Off als Kanon unterschiedlicher Interpreten. Doch stets auf der Bühne präsent sind Leiermann und Krähen, finstere Symbolfiguren der „Winterreise“. Letztere dürfen sogar als Pappmaché-Reproduktionen die Koffer bevölkern – doch das ist eine der ganz wenigen Pointen, die sich Hilbe herausnimmt. Ihr Geschäft ist das Elementare.
Denn man hatte es sich vielleicht über die Jahre zu bequem gemacht, so im Sessel vor dem Bücherregal oder im Konzertsaal. Wehmut kann schließlich auch ein wohliges Gefühl sein. Damit machen die drei einsamen Spieler an der Bühnenrampe Schluss. Notfalls schreien sie einem Texte und Musik um die Ohren: Hört her, es geht ums Leben. Das kann bisweilen zu viel werden, und manches entschlüsselt sich letztlich nicht. Doch hier und da ist es, als hörte man das alles wieder zum ersten Mal. In seiner ganzen Abgründigkeit.
Nächste Vorstellungen: 30., 31. Oktober, 4., 6., 7., 8., 18. und 21. November. Karten:
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