Dabei gilt nach wie vor: ein Happy End gibt es nicht. Und auch sonst ist manches anders als in den Stücken, die sich heutzutage Musical nennen.

Ohne ein Orchester, das den ständig wechselnden Rhythmen und Tempi gewachsen ist, braucht man sich so erst gar nicht heranzuwagen an Leonard Bernsteins Klassiker, der technisch durchaus Operettenformat hat. Chefdirigent Otto Tausk nimmt die Sache persönlich in die Hand und führt ein famos aufspielendes Ensemble mit sattem Bläsersatz und kniffligen Percussion-Parts durch Latino-Tänze und Schlagermelodien, von „America“ bis „Tonight“. Wie immer dringt viel Sound aus dem St. Galler Orcherstergraben, wenige Male haben die Solisten dagegen ein wenig anzukämpfen, ansonsten macht es schlicht Spaß dieser Musicbox unter dem Bühnenboden zuzuhören.

Und so ist das Fundament bereitet für das pralle Geschehen oben auf der Szene, wo sich der Kampf der beiden Jugendgangs, Jets und Sharks, abspielt und parallel die Liebe der romantischen Helden aus den unterschiedlichen Lagern. Die Geschichte von Romeo und Julia haben die Autoren und Texter mit Leonard Bernstein in ein modernes Musical-Format gepackt, damals, als in den Staaten die Konflikte zwischen Einwanderern und Einheimischen eskalierten.

Die „West Side Story“ sollte ihre Antwort auf die politischen Verhältnisse sein. Auch heute gäbe es zum Verhältnis zwischen Fremden und Einheimischen eine Menge zu sagen. Doch politische Aktualisierungen sind auf der Musicalbühne riskant. In St. Gallen hat man sich für die sichere Variante entschieden – und diese professionell umgesetzt. Herausgekommen ist eine Art cineastische Revue mit hervorragenden Tanzszenen, prima Darstellern und dramatischem Ausgang. Kurzweil pur.

Knut Hetzer hat das eindrückliche Bühnenbild gestaltet. Marias Balkon wird hier zu einer Art beweglichem Kran, das Ganze atmet Industrieromantik. Und Melissa King zeichnet als Regisseurin und Choreografin für die Geschwindigkeit der Aufführung verantwortlich, für den fein abgestimmtem Wechsel zwischen Ensemble- und Einzelszenen, für die absolut stimmigen Tanzchoreographien. Ebenso stimmig die Darsteller, die nicht nur das jugendliche Ungestüm des Musicals auf die Bühne bringen, sondern auch den zum Teil ziemlich heiklen Gesangspartien gewachsen sind. Andreas Bongard als Tony mit hellem Tenor, die federleicht singende Sopranistin Lisa Antoni als Maria und die rassige Sophie Berner als Anita sind nur drei Beispiele einer tollen Truppe.

Bei aller Unterhaltung und Spielfreude gelingt ihnen dann auch der Schwenk zur vorprogrammierten Tragödie: Es gibt Tote auf beiden Seiten, Anita wird von den Amerikanern vergewaltigt, Tony von Chino erschossen; aus pubertärer Kraftmeierei werden tatsächliche Verbrechen, die dem munteren Treiben ein Ende setzen und auch im quasi historischen Gewand auf der Bühne ihre Wirkung nicht verfehlen. Das Stück, das die schönsten Evergreens der Musicalgeschichte hervorgebracht hat, endet still – bis die Combo zum Schlussapplaus wieder loslegt.

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