Wir treffen uns im Wartezimmer der Praxis. Ein Ort, der mehr kühle Sachlichkeit ausstrahlt, dazu den typischen Praxisgeruch irgendwo zwischen Sterilium und Jod. Acht Stühle mit grauem Bezug und roten Füßen. Ein flacher Tisch für die geliebten Zeitschriften, mit denen sich der Patient die Zeit vor dem schweren Gang ins Sprechzimmer vertreibt. Im Wartezimmer fällt das Warten besonders schwer. Man wartet nicht auf eine Tasse Kaffee, sondern auf eine Diagnose.
Für den Arzt Michael Ehret ist der Raum ungewohnt. Er betreibt diese Praxis in VS-Schwenningen seit vielen Jahren. Er wartet nicht, sondern lässt warten. Seit einiger Zeit freilich wird ihm das Warten vertrauter. Dr. Ehret ist 67 Jahre alt und denkt allmählich ans Aufhören. Er sucht einen Nachfolger, und das entpuppt sich als verwickelte Angelegenheit.

Natürlich könnte er sich einen Termin setzen und aufhören. Doch will er seine Patienten in gute Hände übergeben. „Ich will meine Patienten doch nicht sitzen lassen,“ sagt er. Ein Mediziner könne nicht einfach sein Lokal zusperren und die Kranken ins Krankenhaus schicken. „In diesem Beruf gibt es auch einen moralischen Anspruch“, sagt er. Auch nach vielen Jahren im Dienst, nach vielen Behandlungen, hält er diese Fahne hoch. Es geht ihm um die Versorgung der Bevölkerung.
Für einen reibungslosen Übergang hat er schon einiges unternommen. Eine junge Ärztin, die er einlernen wollte, hat nicht angebissen. Sohn Matthias hat zwar Medizin studiert und abgeschlossen, arbeitet aber in einer Fachklinik mit einigermaßen geregelten Arbeitszeiten. „Meinem Sohn will ich diese Tätigkeit nicht aufzwingen. Die jungen Kollegen sollen das tun, was ihnen gefällt,“ sagt sein Vater.
Tätigkeit als Hausarzt ist bei jungen Kollegen weniger beliebt
Und was gefällt den Jungen? Offenbar keine Tätigkeit mehr als Hausarzt, der ersten Anlaufstelle für alle Störfälle des Körpers. Dem Experten für Husten, Kopfweh und sämtliche Krankschreibungen. Ist das für junge Mediziner zu trivial, zu eintönig? Wo sie länger studiert haben als andere Akademiker, in Krankenhäusern buckelten als Assistenten und Famulanten? Und dann als Landdoktor hoch in den Schwarzwald? Als niedergelassener Arzt in die Kleinstadt ohne Kino und Kita?
Schwenningen ist kein Einzelfall, sondern beliebig herausgegriffen. In vielen Gemeinden wiederholt sich, was Dr. Ehret anschaulich ausbreitet. Auch in St. Georgen im Schwarzwald wird ein Nachfolger gesucht – über große Plakate am Ortseingang.

Mehr Ärzte denn je
Die Ursachen für den galoppierenden Mangel an Nachwuchs sind nicht einfach zu diagnostizieren. Noch immer zählt Medizin zu den beliebtesten Studiengängen. Die einschlägigen Vorlesungen sind voll. Deshalb sind die Hürden noch immer hoch, man muss ein sehr gutes Abi-Zeugnis vorlegen. „Rein rechnerisch haben wir mehr Ärzte denn je“, sagt Ehret. Als Vorsitzender des ärztlichen Kreisvereins Villingen-Schwenningen hat er einen guten Überblick und kümmert sich auch um berufspolitische Dinge.
Wenn genügend Mediziner ausgebildet und zugelassen werden, dann fragt sich der Laie: Wohin gehen diese Kräfte? Nach Einschätzung von Ehret kommen viele fertig ausgebildete Ärzte nie im kurativen Dienst an, also im Heilen und Betreuen von Patienten. Und die anderen? Sie wandern aus und unterschreiben zum Beispiel im Hochlohnland Schweiz. Oder sie arbeiten auf dem Gesundheitsamt. Oder sie gehen in die Politik wie der SPD-Mann Karl Lauterbach, der als Politiker nicht dazu kommt, einem Kind den Puls zu fühlen.
Das Berufsbild Hausarzt gilt nicht mehr als attraktiv. Junge Mediziner schreckt nicht die Tätigkeit ab, das tun die äußeren Umstände. Sie haben ihre Studien meist in pulsierenden Städten absolviert, mit viel Kultur und interessanten Bars. Sie wollen auch weiterhin urban leben. Der 5000-Seelen-Ort auf der Schwäbischen Alb oder am Rand des Schwarzwalds kann das nicht bieten. Standorte dieser Sorte fallen bei der Entscheidung eines angehenden Arztes aus. Obwohl gerade an solchen Orten Nachfolger für eine medizinische Grundversorgung gesucht werden.
Die Zukunft ist weiblich
Noch etwas: 70 Prozent der Studierenden sind Frauen. Der hohe Anteil ist darauf zurückzuführen, dass junge Frauen eher ein exzellentes Abitur hinlegen als ihre männlichen Klassenkameraden. Deshalb werden deutlich mehr Frauen an den Fakultäten angenommen. In Zukunft trägt die Medizin vermehrt Lippenstift.
Spitzenabitur
Wer in Deutschland Medizin studieren will, benötigt ein starkes Zeugnis – oder er stellt sich auf langes Warten oder aufs Ausland ein. Nur mit einem Durchschnitt zwischen 1,0 und 1,3 sind die Chancen gut. Viele Aspiranten mit weniger guten Noten suchen ihr Glück im Ausland (Wien, Mailand, Sofia/Bulgarien, Olsztyn/Polen). (uli)
Frauen haben einen anderen Blick auf den Tag. Sie überlegen zweimal, ob sie an einen Ort ziehen, an dem es keine Kita gibt. Viele junge Ärztinnen denken an Nachwuchs, und schon kommt das Zauberwort ins Spiel: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bei einer Land- und Waldärztin an einem Ort ohne volle Kinderbetreuung wird das kaum gehen. Also zieht die angehende Doktorin erst gar nicht ins Dorf. „Frauen entwickeln eine andere Lebensplanung“, sagt Ehret.
Die Arbeitszeiten eines Allgemeinmediziners sind nicht familienfreundlich. Michael Ehret verbringt etwa 12 Stunden in seiner 100-Quadratmeter-Praxis oder bei Hausbesuchen. Das Mittagessen ist bereits herausgerechnet. Die Hausbesuche sind für den 67-Jährigen eine Selbstverständlichkeit. Manche Patienten können eben nicht zu ihm in die Dauchinger Straße kommen. Also fährt er zu ihnen. Er verbringt den Tag zwischen Praxis, Straße und privaten Wohnungen. Das kostet Zeit, Parkplatzsuche inklusive.
Manch angehendem Doc erscheint der Hausbesuch fragwürdig. Und aufwendig. Und altmodisch, da er nur mit einer Arzttasche ausgerüstet das Haus betritt. Eine Weiterbildung zum Facharzt ist für junge Mediziner oft interessanter. Zumal er sich als Internist oder Augenarzt den Patienten gezielt bestellen kann.
Als Einzelkämpfer unterwegs
Die politische Begleitmusik der vergangenen Jahre hat den Allgemeinarzt beschädigt. Von wegen Halbgott in Weiß. Wenn vor allem Ärztehäuser und Zentren propagiert werden, gerät der Einzelkämpfer unter die Räder. Umfragen ergeben ein spiegelverkehrtes Bild: Die meisten Bürger suchen gerne einen Hausarzt auf, wenn einer verfügbar ist. Der direkte Gang zur Klinik gilt den meisten als Plan B.
Wer es bequem haben will, wird diesen Beruf nicht ergreifen. Der Hausarzt schleppt manch schweren Fall in sein Privatleben mit. Er erhält Anrufe auch in der Freizeit. Und er kann nicht so sauber den Beruf von seiner Familie trennen, wie das anderen gelingen mag. Der Stadtarzt kann sich das besser einteilen. Er nimmt freie Tage, betreibt Fortbildung und geht in den Urlaub, wann er will.
Immer wieder montags
Auch die Kundschaft ist nicht einfacher geworden. Dr. Ehret beobachtet steigende Ansprüche von Menschen, die ihm da gegenüber sitzen. Zum Beispiel am Montag. „Die Leute, die am Montagmorgen reinkommen, wollen vor allem eine Krankschreibung“, fällt ihm auf. Manch einer könne zur Arbeit gehen, er hat nur keine Lust oder fühlt sich kränker, als er ist. „Viele sind nicht besonders leidensfähig“, fällt ihm auf.
Umso mehr erstaunt der finale Satz von Ehret: „Das ist noch immer ein Traumberuf.“ Daran rüttelt er nicht, aller mühsamen Suche zum Trotz. Die Bestellung des Nachfolgers dürfte sein schwierigster Patient werden.
Wie behandelt man Ärztemangel?
Was tun gegen den wachsenden Mangel an Haus- und Landärzten? An Vorschlägen und Vorstößen mangelt es nicht.
- Praxis zu verschenken: Ein Beispiel lieferte kürzlich die Übergabe einer Praxis in Donaueschingen. Der Mediziner Clemens Willmann suchte acht Monate lang einen Nachfolger. „Ich verschenke meine Praxis an einen Arzt“, hatte Willmann in seiner Not versprochen. Gutachter hatten die Praxis „auf einen sechsstelligen Betrag“ geschätzt. Seit 1. Juli 2018 sitzt ein junger Arzt an seinem Platz. Zum Gefallen der sechs Mitarbeiterinnen und der Patienten.
- Stipendien: Rheinland-Pfalz will junge Mediziner in die Landpraxen locken, indem es sie beim Studium unterstützt. Ein landeseigenes Programm lobt Stipendien aus. Dafür muss sich der angehende Mediziner verpflichten, nach der Ausbildung auf dem Land zu arbeiten und nicht im Krankenhaus.
- Quote: Nordrhein-Westfalen vergibt künftig einen Teil der Medizinstudienplätze an Bewerber, die sich verpflichten, nach dem Studium für zehn Jahre als Hausärzte auf dem Land zu arbeiten. Diese Plätze sind für Allgemeinmediziner reserviert.
- Telemedizin: Bei der Telemedizin tritt der Patient über das Telefon oder den Bildschirm in Kontakt mit einem Arzt. Auf diesem Weg kann er sein Anliegen vortragen und mit einem Mediziner sprechen.
- Docdirect ist das Projekt der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Es ist laut KVBW bundesweit einmalig und nur für Versicherte der Krankenkassen zugänglich. „Die Patienten nehmen es an“, berichtet zum Beispiel die Techniker Krankenkasse (TKK).
- Kein Rezept: Hinter dem Bildschirm sitzen Ärzte oder anderes Fachpersonal. Bei einfachen Fragen können sie mit einem Rat weiterhelfen. Oder sie vermitteln und verweisen. Der Telemediziner kann kein Rezept ausstellen. Für diese Dienstleistung muss der Mediziner noch immer direkt aufgesucht werden. Telemedizin kann dafür bei der Terminsuche helfen. (uli)