Singen – So voll ist die Lutherkirche sonst nur an Weihnachten. Zwei Wochen lang ist das evangelische Gotteshaus in Singen umgewidmet: Es dient seit vergangenem Sonntag als Vesperkirche, in der täglich ein komplettes Mittagessen ausgeteilt wird. 300 Menschen und mehr drängen sich in dem lichten neu-romanischen Bau mit den breiten Glasfenstern mit dem segnenden Christus. Die Vesperkirche in Singen entpuppt sich als Volltreffer.

Blick in die Vesperkirche in Singen. Einmal im Jahr verwandelt sich die evangelische Lutherkirche in einen großen Speisesaal. Der ...
Blick in die Vesperkirche in Singen. Einmal im Jahr verwandelt sich die evangelische Lutherkirche in einen großen Speisesaal. Der Zuspruch ist enorm. Bild: Sabine Tesche | Bild: Tesche, Sabine

Die evangelische Pfarrerin Andrea Fink-Fauser hatte vor drei Jahren die Idee dazu. Schon die erste Vesperkirche geriet zum Erfolg. Unerwartet viele Helfer stellten sich ein und boten ihre Dienste an. Religionslehrer Martin Lilje etwa kommt mit seiner Klasse. Seine Schüler binden sich grüne Schürzen um und nehmen Bestellungen entgegen. "Wo kann ich das Thema Kirche besser behandeln als am praktischen Beispiel?" fragt Lilje. Auch junggebliebene Rentnern helfen, Hausfrauen, Hausmänner. Bis zu 700 Helfer sind für die 14 Tage eingeteilt. Es funktioniert reibungslos. Nur an der Kasse bildet sich eine Schlange, weil der Andrang zu Suppe und gefüllter Kalbsbrust groß ist. Die Leute wollen essen, sich treffen und jemanden zum plaudern haben, weil sie sonst alleine wohnen.

Und wenn die Kirche riecht?

Als die erste Vesperkirche in Singen auf den Weg gebracht wurde, gab es auch Widerstände. Die Räume könnten Schaden nehmen, fürchteten einige aus der Kirchengemeinde. Oder der Saal könnte nach Essen riechen. Inzwischen hat das ökumenische Projekt viele Freunde gewonnen. An den Tischen mit je acht Stühlen sieht man zufriedene Gesichter, was angesichts der vollen Teller auch nicht erstaunt. Suppe, Hauptgang und Nachtisch gehören dazu.

Bild 2: Essen, reden, lieben: Die Vesperkirche in Singen ist ein Volltreffer
Bild: Fricker, Ulrich

Und frische weiße Tischdecken mit echten Blümle. "Das ist unser Anspruch", sagt Joachim Hager, der Tagesleiter. Die Vesperkirche sei keine Armenspeisung, auch wenn sie sich besonders an Bedürftige richtet. Jeder Tisch soll Würde ausstrahlen. Die Gäste werden nicht als Almosenempfänger behandelt, sondern als Teilnehmer eines großen Banketts mit gestärkten Stofftischdecken. Eingeladen ist jeder, unabhängig von Gesangbuch oder Katechismus So tafeln hier die Katholiken von nebenan mit den Protestanten, Nichtgläubigen und Andersdenkenden. Die Vesperkirche wendet sich an alle, sie fragt nicht nach dem individuellen Bekenntnis. Sozialhilfeempfänger kommen vorbei, Neugierige. Auch Oberbürgermeister Bernd Häusler lässt sich die Suppe schmecken, nachdem er händeschüttelnd von Tisch zu Tisch gegangen ist.

22 Tische statt Kirchenbänken

Neben zahlreichen Sponsoren engagiert sich auch die Stadt Singen tatkräftig. Mitarbeiter des Bauhofs entfernen zuvor die Kirchenbänke, um Platz zu schaffen für die 22 quadratischen Tische. Sonst könnte man in dem Kirchenraum nicht speisen.

Pfarrerin Andrea Fink-Fauser (stehend) hat die Vesperkirche vor drei Jahren angestoßen. Bild: Sabine Tesche
Pfarrerin Andrea Fink-Fauser (stehend) hat die Vesperkirche vor drei Jahren angestoßen. Bild: Sabine Tesche | Bild: Tesche, Sabine

Die evangelische Kirche in Singen ist für dieses Bankett gut geeignet. Die großen Südfenster lassen zur Mittagszeit viel mild gefiltertes Licht herein. Der Saalbau ist etwa quadratisch und nicht länglich, das vermittelt eine wohlige Atmosphäre. Praktisch an evangelischen Kirchenbauten: Der Altar ist verschiebbar und verschwindet für diesen Anlass; in einer katholischen Kirche ist er aus Stein gefertigt und felsenfest in der Erde verankert – er soll nicht bewegt werden. Schon aus diesem Grund wäre eine Mittagsmahl-Kirche dort nicht denkbar.

Auch Jesus tafelte gerne

Das Essen (von außen angeliefert) ist gratis, aber nicht umsonst. Jeder gibt, soviel er kann und soviel er hat. Am Ende stand bisher immer eine schwarze Null, berichtet Joachim Hager schmunzelnd. Für ihre Kirche zieht die Pfarrerin eine durchweg positive Bilanz: "Wir haben hier etwas geschaffen, was verschiedene Bevölkerungsgruppen verbindet", sagt Andrea Fink-Fauser. Und biblisch sei die Vesperkirche voll im Rahmen. "Gemeinsames Essen ist etwas sehr Biblisches," sagt sie. Jesus saß häufig mit seinen Jüngern zu Tisch. Er beschaffte und vermehrte Brot und Fische für einige hundert Menschen.