Für Andreas Wilhelm steht inzwischen fest, dass es Wunder gibt. Er kann auch genau sagen, wann er diese Überzeugung gewann. Es war der 26. Mai 2018, der Tag, als ein Feuer im Europa-Park Rust ausbrach. Schnell fraßen sich die Flammen durch dürre Holzfassaden und Dekorationen im skandinavischen Dorf. Das beliebte Fahrgeschäft „Piraten von Batavia“ wurde zerstört. „Als ob die Kindheit abfackelt,“ so schrieb ein Parkgänger später.
Völlig unversehrt blieb dagegen die norwegische Kirche. Obwohl ihre bizarren Türmchen und Spitzen das Feuer regelrecht anziehen, blieb sie heil. Die Stabkirche – vollständig aus Holz gebaut – blieb stehen, während einige Meter weiter stolze Fassaden verkohlten. Das nennt Andreas Wilhelm Wunder. Sein Wunder.
Jesus im Trubel? Warum nicht.
Andreas Wilhelm ist Übernatürliches nicht fremd. Er ist katholischer Diakon und von Berufs wegen mit religiösen Dingen befasst. Mit seinem evangelischen Kollegen Martin Lampeitl arbeitet er hauptamtlich auf dem riesigen Gelände in Rust – einer der beliebtesten Freizeitparks in Europa und bekannt über den Ortenau-Kreis hinaus.
Kirche auf der Achterbahn? Jesus im Trubel? Die beiden Theologen wissen, dass sie zunächst einmal am Rand wahrgenommen werden. „Die Leute kommen nicht wegen der Kirche in den Europa-Park“, sagt Lampeitl. Doch bleiben viele vor der unversehrten Holzkirche stehen und nutzen die Gelegenheit zum Gespräch.
Einhorn und Skelett
Wer über das Gelände schlendert und die liebevollen Details betrachtet, entdeckt viele religiöse Spuren. Zum Teil sind sie dezent, teils faustdick präsentiert. Ohne Religion und deren Schwester Magie wäre der Europa-Park nur halb so spannend. Versteckt geht es immer wieder um Leben und Tod, ewiges Leben, zauberische Kräfte.
Einige Beispiele: Drappierte Skelette winken aus einer Kutsche und laden zum Selfie ein. Ein Einhorn spießt sich an einem Baum fest. Im Märchendorf sind übersinnliche Eindrücke an der Regel. In einem Kabuff sitzt Doktor Allwissend und prahlt mit seinen Kenntnissen. Zwischen Spinnweben und alten Folianten krächzt er: „Stell mir eine Frage...“

Als Märchenonkel sind die beiden Diakone nicht angestellt. Sie haben eine konkrete Aufgabe, indem sie die Seelsorge in die Freizeit hineintragen. „Die Kirche muss Räume öffnen, die bisher nicht kirchlich genutzt werden“, sagt Andreas Wilhelm.
Die Theologen sind bekennende Parkfans
In Rust betreiben er und sein Kollege eine spezielle Form der Seelsorge, so wie auch in Kliniken, Gefängnissen oder Schulen eigene Pfarrer wirken. Wie es der Zufall will: Die beiden Diakone arbeiteten früher in Kliniken, bevor sie nach Rust wechselten.
Ein Traumjob, schwärmen die beiden. Einerseits sind Lampeitl und Wilhelm Teil der Armee von Werktätigen, die unter den Fittichen der Eigentümerfamilie Mack arbeiten. Die Theologen sind bekennende Parkfans, in dessen heiteren Kulissen und bunten Kirchen sie sich sichtlich wohl fühlen.
An Aufgaben mangelt es nicht
Gleichzeitig agieren sie frei und in eigener Verantwortung, da sie von ihrer Kirche angestellt sind. Ihr Chef heißt nicht Roland Mack, sondern Stephan Burger (für die katholische Kirche) sowie Jochen Cornelius-Bundschuh (evangelische Landeskirche Baden).
An Aufgaben mangelt es nicht. Sie betreuen die Angestellten mit. „Schausteller haben seit jeher eine feste Verbindung zu Gott“, bemerkt Wilhelm.
Zwei Kirchen verfügbar
Vier sakrale Räume stehen auf dem prächtigen Gartengelände, und zwei davon werden regelmäßig genutzt. Einmal die Stabkirche im skandinavischen Dorf sowie die kleine Kapelle im Hotel San Isabel.
Bis zu 80 Hochzeiten zählen die beiden jährlich. „Das ist mehr als in den meisten Pfarrgemeinden“, sagt Andreas Wilhelm schmunzelnd. Dazu kommen 70 Taufen von Familien, die mit dem Park vertraut sind und ihn als zweites Wohnzimmer sehen.
Warum denn auswärts?
Dennoch bleibt eine Frage: Was treibt Menschen aus der Heimatpfarrei – und auf fremdes Gelände, um dort Hochzeit zu feiern? Martin Lampeitl sagt: „Viele scheuen sich, in ihrer Kirchengemeinde zu heiraten.“ Das habe mit einer tiefsitzenden Entfremdung zu tun, in der sich viele befänden.
Nach Einschätzung des Diakons gehe es vielen Menschen so. Er nennt sie „treue Kirchenferne“: Sie sind und bleiben Mitglied und kämen nie auf die Idee, auszutreten. Gleichzeitig haben sie den Kontakt verloren, sind scheu geworden.
Im Gewimmel von Rust können sie heiraten und bleiben doch in einer angenehmen halben Anonymität. Während in der Kirche andächtig getraut wird, rattern die Fahrgeschäfte weiter. Das muss man mögen. Ringtausch in der Holzkirche, draußen Geisterbahn und Gekreische.
Ein Hotel wie ein Kloster
Natürlich ist Rust nicht der Vatikan. Hinter der adretten Märchenwelt stecken Kalkül, Geld und unternehmerischer Mut. Und eine mächtige Familie. Die Macks sind zunächst Firma und nicht Wohltäter. Der Park mit den bunten Häuschen und den atemberaubenden Bahnen muss sich selbst tragen.
Tausende Menschen arbeiten hier und verdienen ihr Brot. Wozu dann die beiden Kirchen? Sollen sie den Rummel nur gefällig aufputzen? Oder haben die Gebäude mit den Kreuzen sogar einen Sinn?

Wer in den sakralen Bauten steht, entdeckt eine Antwort. Franz Mack (+2016) und seinen Nachfolgern liegt Glauben am Herzen. Sie inszenieren sich – ganz in der Nachfolge mittelalterlicher Adliger – als Stifter. Die Lebenden und Toten der Familie Mack sind in Messingtafeln in der Stabkirche verewigt. An den Gründer wird mit einem Bild auf dem Altar erinnert.
Aufschlussreich ist eines der fünf Hotels auf dem Gelände – San Isabel. Isabel heißt Elisabeth und ist zufällig der Vorname von Elisabeth Mack (+2004). Die Kunst der Kopie wird hier auf die Spitze getrieben. San Isabel lehnt sich an portugiesische Klöster an, Kreuzgang und Orgel inklusive. Im Refektorium kann man die Porträts von Päpsten bestaunen. Die Bedienungen tragen einen Habit, der an Klosterschwestern erinnert.

Natürlich gibt es auch Punkte, wo es hörbar knirscht. Zum Beispiel Halloween, das im Oktober durchgängig als Leitmotiv für die Dekoration dient. Kürbisse, Gerippe, schauerliche Masken. Ein keltisch-irisches Fest mit heidnischen Ursprüngen.
Halloween zeigt den Unterschied
Wie gehen die Seelsorger im Freizeitland damit um? „Wir mischen uns nicht ein“, sagt Andreas Wilhelm etwas leise. Rust ist kein christlicher Themenpark. Eher haben die Kirchen ein Gastrecht, aber kein Recht auf inhaltliche Mitsprache. Das ist der Konsens. Roland Mack und seine Manager entscheiden nach Publikumswünschen, nicht nach dem persönlichen Glauben.

Sehr persönlich wird es bei den Fürbitte-Büchern, die in der Kirche offen ausliegen. Jeder kann hier ein Anliegen hineinschreiben, und jeder kann sie später lesen. Zum Teil sind es erschütternde und berührende Mitteilungen. Man liest von schwerer Krankheit und wundersamer Gesundung. Von Ehekrisen und schweren Unfällen, von Diagnosen. Wer in Not ist, wird sie auch im Park nicht los. Also schreibt er seine Sorge in diese Enzyklopädie der Fürbitten. Die Seiten füllen sich in allen Sprachen Europas. In keinem anderen Buch steckt so viel Leben und Kämpfen wie in dieser Kladde.
Trauen kostet
Die Trauung in der Ruster Jakobuskapelle ist umsonst. Für die Nutzung der Stabkirche werden 300 Euro berechnet, da das Gelände abgesperrt wird. Zum Vergleich: Die Marienkirche auf der Mainau kostet 500-700 Euro, wenn Paare dort heiraten wollen. (uli)