Die grenznahen Kernkraftwerke Beznau und Leibstadt stehen seit langem in der Kritik: Viel zu alt, viel zu anfällig, heißt es vor allem von den beiden Beznau-Reaktoren, die seit 1969 in Betrieb sind und zu den dienstältesten der Welt zählen. In einer Studie kommt das Institut Biosphère in Genf jetzt zu einem alarmierenden Ergebnis.
Die Schweiz sei auf einen großen Nuklearunfall einer ihrer Kernkraftwerke nur „unzureichend vorbereitet“ schreiben die Autoren. Bis zu 100 000 Menschen könnten bei einem Super-Gau allein eines der untersuchten Kernkraftwerke in der Schweiz und besonders in Deutschland Krebs-, Herz-Kreislauferkrankungen sowie Schäden des Erbguts davontragen. Außerdem müssten bis zu 500 000 Menschen dauerhaft umgesiedelt werden.
Wissenschaftlern der Universität Genf und des Genfer Institut Biosphère haben die Auswirkungen eines Nuklearunfalls in den Atomkraftwerken Leibstadt, Gösgen, Beznau und Mühleberg sowie im französischen AKW Bugey untersucht. Dabei wurden nach eigenen Angaben moderne meteorologische Berechnungen und neue medizinische Erkenntnisse berücksichtigt und entsprechende Unfälle in Computern simuliert. „Die dabei freigesetzte Radioaktivität wird auf das Dreißigfache des Wertes geschätzt, welcher der Planung des Schweizer Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (Babs) zugrunde liegt“, heißt es bei der Schweizer Energiestiftung (SES). Anders gesagt: Die Risiken werden sträflich unterschätzt.

Die Wissenschaftler gingen auf der Datengrundlage von 2017 von einem Unfall der Größenordnung Fukushimas oder Tschernobyls aus. So wurden unter anderem die Wetterverhältnisse eines jeden Tages für jedes der Kernkraftwerke rechnerisch simuliert. Deutschland wäre von der Radioaktivität in der Luft besonders stark betroffen. So gäbe es bei einem Unfall im Kernkraftwerk Leibstadt gegenüber von Waldshut in Deutschland um 20 Prozent höhere Opferzahlen als in der Schweiz. Bei besonders ungünstigen Wetterverhältnissen lägen die Zahlen in Deutschland sogar mehr als doppelt so hoch. Aus der Grafik oben geht hervor, dass 48 Stunden nach einem hypothetischen Unfall im Kernkraftwerk Beznau weite Teile Süddeutschlands mit unterschiedlichen Strahlendosen belegt sind.
Die Schweizer Energiestiftung, die diese Studie kürzlich gemeinsam mit den Wissenschaftlern aus Genf vorstellten, spricht sogar von einer 20-fach höheren Wahrscheinlichkeit eines großen Nuklearunfalles als bisher angenommen. „Dieses Risiko ist inakzeptabel“, heißt es auch von den Wissenschaftlern. Sie verlangen vom Schweizer Parlament eine rasche Abkehr von der Kernenergie.

Die Atom-Aufsichtsbehörde der Schweiz, das Ensi (Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat) wollte auf Nachfrage keine Einschätzung zur Studie abgeben: „Eine seriöse Analyse der vorgelegten Berechnungen ist in so kurzer Zeit nicht möglich“, teilte deren Sprecher Thomas Thöni dem SÜDKURIER mit. Nach dem Reaktorunfall von Fukushima habe die Behörde die Berechnungen zu schweren Unfällen aktualisiert. „Solche Szenarien sind aber höchst unwahrscheinlich. Aufgrund der Erkenntnisse aus Fukushima hat die Schweiz ihre Planungsgrundlagen für den Notfallschutz angepasst.“
Auch das zuständige Regierungspräsidium Freiburg wollte sich nicht zur Studie äußern. Sprecher Matthias Henrich verwies auf den Katastrophenplan des Landes aus dem Jahr 2012, der derzeit überarbeitet wird. Man halte sich dabei an die Handlungsempfehlungen der Strahlenschutzkommission nach dem Reaktorunfall in Fukushima. So würden auch die Evakuierungsradien erweitert. „Die Neueinteilung des Regierungsbezirks in Zonen und Sektoren ist abgeschlossen.“ Auch seien die Ausgabestellen für Jodtabletten und Sammelstellen mit den Gemeinden im Umkreis von 100 Kilometern weitgehend abgestimmt.

Kritik an den Plänen kam bereits von der Waldshuter Bürgerinitiative „Zukunft ohne Atomstrom“ (ZoA). Deren Sprecherin Monika Herrmann-Schiel warnte vor chaotischen Zuständen im Falle eines Atom-Unfalls. So müssten binnen kürzester Zeit 18 000 Menschen aus der Kernzone, zu der auch Waldshut-Tiengen gehört, fliehen. Denn laut der neuen Studie sollen radioaktive Wolken schon nach wenigen Stunden Großstädte in Deutschland erreichen. Für Waldshut hieße das: Eine Kolonne von 4500 Fahrzeugen würde über die ohnehin überlasteten Straßen rollen. Da reichte ein kleiner Unfall, um einen kilometerlangen Stau zu verursachen.