Stefan Bürgelin hat hoffentlich Kraft gesammelt. Der Richter der Jugendkammer am Landgericht Freiburg wird sie brauchen. An diesem Montag wird der Prozess um die Gruppenvergewaltigung wieder aufgenommen, nach einem Monat Sommerpause. Die Fortsetzung dürfte bis ins neue Jahr andauern.
Elf Tatverdächtige sitzen auf der Anklagebank, die als solche gar nicht mehr erkennbar ist. Der Saal musste umgebaut werden, damit die Männer zwischen 18 und 32 Jahren – acht Syrer, ein Iraker, ein Algerier und ein Deutscher – Platz finden mit ihren Strafverteidigern.
Die Zuschauerreihen wurden zurückgesetzt, zusätzliche Tische aufgestellt. Der Zeugenstand ist in die Mitte dieses Halbkreises gerückt – wer auch immer dort Platz nimmt, sitzt mit dem Rücken zu mehreren der Angeklagten. Diese müssen größtenteils hinter ihren Pflichtverteidigern sitzen.
Fragwürdiges Verhalten
Das führt im Saal immer wieder zu Irritationen. Denn die jungen Männer finden es bisweilen spannender sich verbotenerweise untereinander zu unterhalten, als den Übersetzungen der beiden Dolmetscher zu lauschen. Oben auf der Empore sitzen einige Freunde und Familienangehörigen der Angeklagten.
Immer wieder gehen die Blicke einiger Tatverdächtiger dorthin – Timo B. wagt hin und wieder ein scheues Lächeln. Wahrscheinlich an seine Verlobte gerichtet. Seine Zukünftige scheint ihm verziehen zu haben, dass er trotz ihrer Anwesenheit im Club nach draußen gegangen war – in jener Nacht Mitte Oktober, als es im Hans-Bunte-Club im Freiburger Industriegebiet die Runde machte, dass da draußen eine wäre, die „gefickt“ werden wolle.
Raue Worte
An das raue Vokabular im Saal muss man sich gewöhnen. Weder Zeugen noch Angeklagte, unabhängig von Nationalität und Kinderstube, scheinen in der Lage, respektvoll über diese Frau zu sprechen, die mutmaßlich Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden ist.
Der Deutsche behauptet, die junge Frau hätte sich ihm aufgedrängt, nach Sex verlangt. Schließlich willigte er zum Oralverkehr ein, behauptet er. Dass sie offenbar „drauf“, also auf Drogen war, störte ihn nicht. Er findet es offenbar witzig, kichert fast, als er dem Richter als selbst ernannter Experte erklärt, dass Ecstasy die Pupillen erweitert: Sie habe Augen „wie eine Eule“ gehabt.

Gezwungen haben will er sie nicht. Die Medien stellten das alles falsch dar, „als seien wir alle über sie drüber gerutscht“, während sie bewusst los war. Aber so sei es nicht gewesen. Überhaupt will hier niemand etwas von Missbrauch wissen.
Angeblich einvernehmlich
Majd H., der Hauptangeklagte, gegen den es einen weiteren Prozess wegen des Vorwurfs einer gemeinschaftlichen Vergewaltigung mit einem seiner Mitangeklagten und einem dritten Mann geben wird, hatte über seinen Anwalt mitteilen lassen, dass die junge Frau Sex mit ihm gewollt, ja sogar „massiv gefordert“ hatte. Die übrigen Angeklagten schweigen.
Rückblende: Franziska W., damals gerade 18, besucht mit ihrer Freundin Corinna den Club. Die beiden Mädchen trinken etwas in der Stadt, machen sich auf den Weg in den Technoladen im Industriegebiet. Dass dort Drogen gehandelt werden, scheint ein offenes Geheimnis. Das jedenfalls sagen Zeugen, die in dem Prozess auftreten. Junge Männer, teils noch minderjährig, die sich eingeschlichen haben in den Club.

Auch Franziska und ihre Freundin werden angesprochen – von Alaa A., einem der Angeklagten. Er verkauft ihnen zwei Ecstasy-Tabletten, rot, in Herzchenform. Dann kommt Majd H., bringt den beiden Wodka-Bull. Corinna lehnt ab, ihr ist das suspekt. Doch Franziska nimmt den ausgegebenen Drink an, trinkt. Später wird man Spuren eines Betäubungsmittels, wahrscheinlich K.O.-Tropfen, in ihrem Blut finden.
Sie unterhält sich mit ihm über seine auffälligen Tattoos an den Armen – er sagt ihr, er hätte eines am Oberschenkel, fordert sie auf, mit hinaus zu kommen, damit er es ihr zeigen kann. Corinna versucht ihre Freundin abzuhalten, vergebens. Sie vereinbaren eine Zeit, doch Franziska taucht nicht auf.
Aussage und Beweise stützen das Opfer
Später wird sie bei der Polizei aussagen, dass Majd H. sie vergewaltigt hat. Die Strumpfhose heruntergerissen, den Slip, den sie trug. Die Rechtsmedizin wird Hämatome an den Oberschenkelinnenseiten, den Armen, Schürfwunden an ihr feststellen.
Ein Hämatom am Oberarm deutet auf einen „Festhaltegriff“ hin. Bei einigen der Tatverdächtigen wurden Kratzspuren von Franziskas Fingernägeln gefunden, die teils abgebrochen waren. Das alles spielte sich im Gebüsch, direkt neben dem Tor zum Club, ab. Wenige Meter entfernt vom Haupteingang, schemenhaft erhellt von den Strahlen der Scheinwerfer.
Empathielosigkeit
Einer der jungen Männer, der als Zeuge aussagte, aber gegen den noch als Verdächtiger ermittelt wird, behauptet, er habe gesehen, dass ein Mann auf ihr lag – „da drauf“. Der 17-Jährige, ein Deutscher, spricht von der jungen Frau wie einem Objekt. Er selbst habe kein Interesse gehabt – „was soll ich mit einer, wo schon einer drauf war“.
Er zuckt mit den Schultern. Die Angst vor Geschlechtskrankheiten wog wohl schwerer als die Frage, ob die Frau überhaupt freiwillig Sex mit dem Mann hatte. So genau kann der Jugendliche das nicht beantworten, verstrickt sich in Widersprüche. Einerseits habe sie gerufen „gib‘s mir“, andererseits habe es sich so angehört, als habe sie es vielleicht doch nicht gewollt.
Fragwürdige Verteidigungsstrategien
Eine der Strafverteidigerinnen, Kerstin Oetjen, macht in diesem Prozess von sich reden. Sie ist bekannt als eine, die im Gerichtssaal ein eigenwilliges Auftreten hat. Sie fühlt sich falsch zitiert von mehreren Journalisten, die bezeugen können, dass sie von Gebaren wie einer Wildkatze gesprochen hat. Die Kratzspuren interpretiert sie als „Spuren der Enthemmung“.
Auch Anwältin Hanna Palm und ihre Tochter Jutta Palm fallen auf. Die Verteidigerinnen stellen Fragen, die aufhorchen lassen. Ob die „Franzi“ denn Strapse trug oder eine Strumpfhose – als habe das irgendeine Aussagekraft über die Bereitschaft zum Sex. Auf was für Typen sie so stehe, will die ältere Palm wissen. Ob Franziska W. schon länger keinen Sex mehr gehabt habe, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte.
Es sind Szenen wie diese, die den Prozess prägen – und ihn manchmal schwer erträglich machen. Doch Richter Bürgelin darf sich davon nicht beeinflussen lassen. Er will, er muss ihn zu Ende bringen, diesen Mammutprozess. Mehr als 50 Zeugen sollen gehört werden, fünf Sachverständige. Die 27 angesetzten Verhandlungstage werden nicht reichen. Bürgelin will den Anwälten weitere Termine vorschlagen. Nicht einfach, wenn elf Strafverteidiger verfügbar sein müssen.
Frage der Glaubwürdigkeit
Der Prozess könnte schwieriger kaum sein. Im Zentrum steht eine Kronzeugin, die wegen der Drogen, unter denen sie stand, Erinnerungslücken hat. Sie kann sich an den Hauptangeklagten erinnern und daran, dass da andere waren.
Ihre Aussage macht sie nach langem Hin und Her in einem anderen Raum des Gerichts – ihr Gutachter warnte vor traumatischen Folgen, würde man die heute 19-Jährige der Gegenwart der Angeklagten aussetzen. Die junge Frau vermeide Gruppen und habe Angst vor unvorhersehbaren Situationen, leide an Schlafstörungen und Albträumen. Noch immer wird ein Tatverdächtiger mit Phantombild gesucht.

78 vollgepackte Aktenordner listen Vernehmungen der Angeklagten, Zeugenaussagen, WhatsApp- und Anrufprotokolle auf. Doch all das ist wertlos, wenn die Aussage der Kronzeugin nicht als glaubhaft gewertet werden kann.
Hilflosigkeit
Der leitende Ermittler verliest Aussagen von ihr im Gerichtssaal – wie sie zunehmend die Kontrolle über ihren Körper verloren habe, abdriftete in eine schemenhafte Welt, in der die Dinge um sie herum verschwimmen, undeutlich werden, sie nicht mehr schreien, sich nicht mehr wehren kann. Doch sie weiß noch, dass sie festgehalten wurde, oral und vaginal vergewaltigt wurde – teils von zwei Peinigern gleichzeitig.

Die Männer in diesem Gerichtssaal sind sich keiner Schuld bewusst. So zumindest treten sie auf, wenn sie sich in die Seite knuffen, grinsen. Als sei das alles eine Parodie, aber keine Strafverhandlung, in dessen Mittelpunkt eine junge Frau steht: Ihr Leben wurde für immer verändert.
Öffentliche Verhandlung
Grundsätzlich sind alle Verhandlungen vor Gericht öffentlich – das heißt, jeder Bürger darf als Zuschauer den Prozessen beiwohnen. Das Gericht kann in bestimmten Situationen allerdings den Ausschluss der Öffentlichkeit veranlassen.
- Grundsatz der Öffenlichkeit: Die Verhandlung vor Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist in Deutschland in allen gerichtlichen Verfahren grundsätzlich öffentlich. Das heißt, dass jeder unbeteiligte Bürger Zutritt zum Gerichtssaal hat. Dahinter steckt der Grundsatz der Kontrolle der Rechtssprechung und Rechtsstaatlichkeit.
- Gesetzesgrundlage für den Auschluss: Paragraf 171 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) regelt, unter welchen Umständen die Öffentlichkeit nicht an der Verhandlung teilnehmen darf.
- Grundsatz: „Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, eines Zeugen oder eines durch eine rechtswidrige Tat Verletzten zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde“, heißt es darin. Dies gilt aber nicht, wen das Interesse an der öffentlichen Erörterung überwiegt: Die Abwägung muss der Richter treffen.
- Sexuelle Selbstbestimmung: „Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, soweit in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen wird.“ Im vorliegenden Fall ist die Zeugin zwar 19 Jahre alt, aber hier greift der Grundsatz des Paragrafen des persönlichen Lebensbereichs.
- Schlussplädoyers: Auch die Schlussanträge müssen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, wenn eine Zeugin im Prozess unter Ausschluss ausgesagt hat. Grund dafür ist, dass sich die Plädoyers auf die Aussagen stützen oder diese widerlegen. (mim)