Warum musste ein 19-jähriger Mann vor einer Shisha-Bar im Konstanzer Industriegebiet sterben? Am 11. März 2017, fast auf den Tag genau vor einem Jahr, soll er kurz nach Mitternacht mit Freunden die Bar betreten haben. Zwei Stunden später erlag er im Krankenhaus seinen inneren Verletzungen nach dem Messerangriff eines 17-jährigen Konstanzers. Der Fall vor dem Landgericht Konstanz sorgte über die Region hinaus für Aufmerksamkeit. Unerklärlich scheint es den Menschen bis heute, was in der Tatnacht zwischen 0.30 und 2.30 passiert war: Kam es zu einem Streit zwischen mehreren jungen Männern, der schließlich blutig endete? Oder hatte der damals 17-jährige Hauptangeklagte das zwei Jahre ältere Opfer – wie es ihm die Staatsanwaltschaft vorwarf – „ohne rechtfertigenden Grund allein aus Langeweile und zum Zwecke der Machtdemonstration mit einem Messer niedergestochen“?

Abgeschlossen ist der Fall auch nach dem kürzlich vom Landgericht gesprochenen Urteil nicht, das auf siebeneinhalb Jahre Haft wegen Totschlags für den heute volljährigen Hauptangeklagten lautet. Ein 21-jähriger Mitangeklagter muss wegen gefährlicher Körperverletzung 21 Monate ins Gefängnis, die Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Doch beide Angeklagten haben nun hiergegen Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt, bestätigt Mirja Poenig, Richterin und Pressereferentin am Landgericht Konstanz. Das Urteil ist damit nicht rechtskräftig. Sollte die Revision durch den Bundesgerichtshof zugelassen werden, könnte der Fall unter Umständen an das Landgericht Konstanz zur Neuverhandlung zurück verwiesen werden.

Auf der Straße nahe dem Recyclinghof (im Hintergrund) haben die Ermittler die Stelle markiert, wo dem Mann die tödlichen Stiche zugefügt ...
Auf der Straße nahe dem Recyclinghof (im Hintergrund) haben die Ermittler die Stelle markiert, wo dem Mann die tödlichen Stiche zugefügt wurden. | Bild: Jörg-Peter Rau

Ein neuer Prozess gegen die beiden Angeklagten würde öffentlich beginnen. So wie auch der Ende Januar begonnene Ursprungsprozess öffentlich war, was wegen strenger Sicherheitsvorkehrungen für lange Wartezeiten vor dem Gerichtssaal sorgte. Dass das Verfahren nach etwas mehr als zwei Stunden ohne Zuschauer fortgesetzt wurde, sorgte für Unverständnis, bisweilen auch für Unmut seitens der am Verfahren interessierten Menschen. Immer wieder schüttelte ein junger Mann mit dem Kopf, kurz nachdem er den Saal verlassen musste. Er bewegte die Arme nach oben, ballte die Fäuste und ließ die Arme wieder nach unten rasen. Als ob er auf einen nicht vorhandenen Tisch einhämmern wollte. Er wolle dabei sein bei der juristischen Aufarbeitung der Frage, warum sein Freund vor der Shisha-Bar gestorben war, sagte er. Mit mahlenden Kiefern schimpfte er in strengem Schweizer Dialekt: „Das ist ein Skandal, ein echter Skandal. Das darf der nicht. Warum darf der das?“

Der, das ist der Vorsitzende Richter dieses Falls, Joachim Dospil. Doch, er durfte das. Und nein, der Ausschluss der Öffentlichkeit, den der junge Mann aus der Schweiz als Skandal bezeichnete, ist keiner. Das Gericht räumte den Erwägungen zur Erziehung und zum Schutz des zur Tatzeit noch jugendlichen Angeklagten Vorrang vor dem Prinzip der Öffentlichkeit ein. Die Richter unter Dospils Vorsitz gaben damit dem kurzfristig erfolgten Antrag des Verteidigers des inzwischen Volljährigen statt. Der Anwalt hielt es für möglich, dass im Laufe der Verhandlung persönliche Angaben zu seinem Mandanten gemacht werden könnten, die dessen Schutzbedürftigkeit als Jugendlicher angreifen könnten. Knapp vier Wochen lang wurde fortan hinter verschlossenen Türen verhandelt, nur unmittelbar am Prozess beteiligte Personen waren dabei.

In Ausnahmen ausgeschlossen

Dass grundsätzlich jeder in Deutschland die Arbeit von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern mit eigenen Augen beobachten darf, ist ihm rechtsstaatlich zugesichert. „Die Idee der öffentlichen Gerichtsprozesse stammt bereits aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dort diente sie vor allem der Kontrolle vor der Willkür der Obrigkeit,“ erklärt die Juristin Anna K. Bernzen von der Universität Mannheim. Sie forscht zum Thema Öffentlichkeit an deutschen Gerichten, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Medien im Gerichtssaal. Zwei Aspekte seien zur historischen Kontrolle zum Schutz des Angeklagten hinzugekommen, führt Bernzen aus: das Interesse, bei den Bürgern für Vertrauen in die Justiz zu sorgen und die Bevölkerung über die Prozessführung zu informieren. Der Öffentlichkeit muss also nicht erst erlaubt werden, einem Gerichtsverfahren zu folgen. Sie ist lediglich in Ausnahmen ausgeschlossen. Prozesse gegen Jugendliche zählen zu diesen Ausnahmen. Dann muss die Öffentlichkeit lediglich informiert werden, dass gerade ein Gerichtsverfahren läuft – zum Beispiel per Aushang an der Tür.

Spuren einer tödlichen Nacht: Beamte der Kriminalpolizei stellen vor dem Parkplatz des Lokals im Konstanzer Industriegebiet ein Auto ...
Spuren einer tödlichen Nacht: Beamte der Kriminalpolizei stellen vor dem Parkplatz des Lokals im Konstanzer Industriegebiet ein Auto sicher. Bilder: Jörg-Peter Rau (3) | Bild: Jörg-Peter Rau

Die Besonderheit des Falls um die Bluttat vor der Konstanzer Shisha-Bar: Es ist nicht so, dass die Öffentlichkeit gar nichts von dem einmonatigen Prozess mitbekommen hätte, obwohl gegen einen Jugendlichen verhandelt wurde. Am Eröffnungstag blickten die 70 Besucher im Saal beiden Angeklagten in die Augen, nachdem sie Ausweis- und Taschenkontrollen hinter sich gebracht hatten. Dies, weil auch Prozesse gegen Minderjährige – wie den hauptangeklagten Konstanzer – öffentlich verhandelt werden, sofern ein Volljähriger – wie der wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagte 21-Jährige – beteiligt ist. Die Ausnahme: Selbst dann kann „die Öffentlichkeit nach Abwägung der widerstreitenden Interessen durch richterlichen Beschluss ausgeschlossen werden“, erklärt Mirja Poenig vom Landgericht Konstanz. Beim Shisha-Prozess ist genau das geschehen.

Öffentliche Eröffnung, nicht-öffentliche Fortsetzung: Den Menschen im Besucherbereich des Saals – unter ihnen etliche Verwandte und Freunde des getöteten 19-Jährigen – war das Unverständnis hierüber ins Gesicht geschrieben. „Emotional kommt man manchmal zu einer anderen Entscheidung, als sie die Paragrafen hergeben“, sagt Anna K. Bernzen. Sie ist überzeugt: „Die Entscheidung über Öffentlichkeit oder Nicht-Öffentlichkeit macht sich kein Richter leicht. Dazu gehört auch ein langer Prozess des Abwägens.“ Im vorliegenden Fall war das Ergebnis dieses Abwägens: keine Zuschauer zum Schutz der Interessen des Jugendlichen.

Der Ort des Verbrechens: Freunde und Verwandte stellten auf dem Parkplatz vor der Konstanzer Shisha-Bar Blumen und Kerzen auf.
Der Ort des Verbrechens: Freunde und Verwandte stellten auf dem Parkplatz vor der Konstanzer Shisha-Bar Blumen und Kerzen auf. | Bild: Jörg-Peter Rau

Was aber, wenn die nun eingelegte Revision zugelassen wird? Zwei Vermutungen könne der dann mit dem Prozess betraute Richter laut Anna K. Bernzen bei seinen Abwägungen über Für und Wider zur Frage der Öffentlichkeit anstellen. Sie könnte entweder negativ bewirken, dass sich der Angeklagte anders verhält, als er das ohne Zuschauer würde. Entweder, weil er besonders gehemmt oder im Gegenteil prahlerisch auftritt. So sah es das Landgericht unter Vorsitz von Richter Dospil im Ursprungsprozess. „Die Öffentlichkeit könnte aber auch positiv bewirken, dass alle Prozessbeteiligten wegen der sichtbaren Kontrolle durch die Bürger an einem besonders fairen und genauen Prozess interessiert sind und beispielsweise ein Staatsanwalt weniger forsch auftritt“, gibt Bernzen zu Bedenken.

Eines bliebe laut der Expertin für Öffentlichkeit in Gerichtsverfahren auch bei einem neuerlichen Prozess wegen der Bluttat vor der Shisha-Bar in Konstanz gleich: „Dem Gericht muss egal sein, wer die Deutungshoheit über den Verlauf eines Prozesses übernimmt“, sagt Bernzen. Sollten das Verteidiger oder Vertreter der Nebenklage sein, werde kein Richter die Öffentlichkeitsarbeit an sich reißen. Anna K. Bernzen erklärt dazu: „Dessen einziges Interesse muss sein, ein faires Verfahren zu leiten und zu einem gerechten Urteil zu kommen.“

 

Was bedeutet Revision?

Die Revision ist eines von zwei bekannten Rechtsmitteln. Einlegen kann sie der Angeklagte, die Staatsanwaltschaft, der Verteidiger und mit Einschränkungen die Nebenkläger. Anders als bei einer Berufung, die zum Beispiel bei Urteilen durch Amtsgerichte möglich ist, wird bei der Revision nicht noch einmal der Sachverhalt geprüft. Das heißt es kommt nicht erneut zu einer Beweisaufnahme. Ein Revisionsgericht – im vorliegenden Shisha-Prozess handelt es sich um den Bundesgerichtshof – überprüft ein Urteil nur auf mögliche Form- oder Rechtsfehler im Verfahren. Die Revision muss darauf abzielen, dass das gefällte Urteil gegen geltendes Recht verstößt. Hat sie Erfolg, wird der Fall meist an die ursprüngliche Instanz zurückverwiesen, das gefällte Urteil würde aufgehoben. Nur selten trifft das Revisionsgericht eine eigene Entscheidung. Ist die Revision erfolglos – was in der Praxis in bis zu 97 Prozent der Versuche das häufigere Ergebnis ist – wird das Urteil der ursprünglichen Instanz rechtskräftig. (bbr)

 

Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht

  • Jugendstrafrecht: Kinder unter 14 Jahren können nach deutschem Strafrecht nicht für ein Verbrechen bestraft werden. Wer zum Zeitpunkt einer Straftat mindestens 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, wird nach Jugendstrafrecht behandelt. Rechtlich möglich ist das auch bei Heranwachsenden (zur Tatzeit 18 bis 21 Jahre alt). Ist ein Angeklagter zur Tatzeit 22 Jahre oder älter, gilt automatisch Erwachsenenstrafrecht. Jugendstrafrecht ist dann ausgeschlossen.
  • Mögliche Strafen: Nach Jugendstrafrecht sind maximal fünf Jahre Haft möglich, bei Mord bis zu zehn Jahre. Bei Mord in besonders schweren Fällen und nur bei Heranwachsenden (nicht bei Jugendlichen) können es auch maximal 15 Jahre sein. Nach Erwachsenenstrafrecht wird Mord in der Regel mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet, zudem ist in besonders schweren Fällen anschließende Sicherungsverwahrung möglich.
  • Doppelmord von Herne: Der Ende Januar von einem Jugendgericht wegen zweifachen Mordes verurteilte Marcel H. aus Herne hatte einen neunjährigen Nachbarsjungen mit 52 Messerstichen getötet und einen 22 Jahre alten Schulfreund umgebracht. H. war zur Tatzeit 19 Jahre alt. Eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht gilt in der Justiz in einem solchen Fall eher als Ausnahme. Das Gericht entschied sich dennoch dafür, denn „von einer Jugendverfehlung kann bei diesen Taten keine Rede sein“, begründete der Richter. Die Rechtspsychologin sagte, der Angeklagte sehe zwar jugendlich aus, tatsächlich sei seine Persönlichkeit aber schon ausgereift. Problematisch seien vor allem „psychopathische, narzisstische und sadistische“ Züge. Das Urteil nach Erwachsenenstrafrecht: Lebenslange Haft. Es wurde auch wegen der besonderen Schwere der Schuld unter dem Vorbehalt einer anschließenden Sicherungsverwahrung verhängt.
    Zur Tatzeit 19, trotzdem zu lebenslanger Haft verurteilt: Marcel H. aus Herne. Bild: dpa
    Zur Tatzeit 19, trotzdem zu lebenslanger Haft verurteilt: Marcel H. aus Herne. Bild: dpa
  • Urteil gegen G20-Randalierer: Dem 19-jährigen Zoran B. wurde vor Gericht vorgeworfen, im Juli 2017 bei einer Anti-G20-Demonstration in Hamburg mehrfach Flaschen auf Polizeibeamte geworfen und auch andere Personen dazu motiviert zu haben. Das G20-Verfahren in Hamburg war das erste, das nach Jugendstrafrecht verhandelt wurde. Die Anklage lautete auf versuchte gefährliche Körperverletzung, schweren Landfriedensbruch und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Urteil nach Jugendstrafrecht: Ein Jahr und drei Monate. Ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, wird noch entschieden.
    Zoran B. (links), 19, war 2017 wegen Gewalt beim G20-Gipfel angeklagt. Bild: dpa
    Zoran B. (links), 19, war 2017 wegen Gewalt beim G20-Gipfel angeklagt. Bild: dpa | Bild: Christophe Gateau
  • Tugce-Prozess: Der 18 Jahre alte Sanel M. hatte die Studentin Tugce Albayrak im November 2014 auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Offenbach so geschlagen, dass sie auf den Kopf fiel. Sie starb wenige Tage später. Das Landgericht Darmstadt verurteilte Sanel M. im Juni 2015 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu drei Jahren Jugendstrafe. Der Richter bescheinigt dem jungen Mann "erhebliche Erziehungsdefizite" im Umgang mit Gewalt.
    Drei Jahre Jugendstrafe: Sanel M. hält sich einen Umschlag vors Gesicht. Bild: dpa
    Drei Jahre Jugendstrafe: Sanel M. hält sich einen Umschlag vors Gesicht. Bild: dpa | Bild: KAI PFAFFENBACH
  • Mordprozess gegen Hussein K.: Dem Flüchtling werden Mord und besonders schwere Vergewaltigung vorgeworfen. Er hat zugegeben, 2016 nachts in Freiburg eine 19 Jahre alte Studentin vergewaltigt und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und danach in die Dreisam gelegt zu haben. In dem Prozess geht es auch um die Frage, wie alt der vor der Jugendkammer stehende Mann ist. Er selbst hatte angegeben, 16 oder 17 Jahre alt zu sein. Zu Prozessbeginn gab er zu, gelogen zu haben. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für mindestens 22 Jahre alt. Entsprechende Gutachten stützen dies. Die Staatsanwaltschaft will eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung erreichen. Hierzu ist jedoch eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht nötig. (ink/dpa)
    Er log, was sein Alter zur Tatzeit anbetraf: Hussein K. in Freiburg vor Gericht. Bild: dpa
    Er log, was sein Alter zur Tatzeit anbetraf: Hussein K. in Freiburg vor Gericht. Bild: dpa