Sigi Suhr freut sich auf eine Fahrradtour am Bodensee. Es ist Hochsommer. Das Wetter stimmt. Der Zug Richtung Schweiz kommt pünktlich. Der 66-Jährige schwingt sich in Schaffhausen auf sein Rad. Und anfangs läuft es reibungslos. Bis er in der Altstadt eine Schwelle übersieht und stürzt.
Suhr bricht sich Rippen, muss ins Krankenhaus. Dort wird er von der Polizei befragt. Routine – denkt sich Suhr. Andere Länder, andere Sitten eben. Doch sechs Wochen später flattert ein Brief ins Haus. Und die unglaubliche Geschichte beginnt.
Ermittlungen wegen „Nichtbeherrschen des Fahrzeugs“
Die Staatsanwaltschaft Schaffhausen leitet Ermittlungen gegen den Freiburger ein und stellt einen Strafbefehl aus. Der Vorwurf klingt wie ein verspäteter Aprilscherz: „Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeherrschen des Fahrzeuges“. Doch Sigi Suhr merkt schnell: Die Staatsanwaltschaft ist alles andere, als zu Scherzen aufgelegt. Suhr weigert sich diesen Vorwurf zu akzeptieren. Wofür auch? Denkt er sich. Er hatte keinen Alkohol getrunken, niemanden verletzt, oder Gegenstände beschädigt.
Doch das spielt keine Rolle. Es geht um den Sturz an sich, stellt Andrea Schilling, Staatsanwältin in Schaffhausen auf Nachfrage des SÜDKURIER klar: „Ein Nichtbeherrschen des Fahrzeugs ist dann strafbar, wenn es auf einem Fahrfehler oder einer Fehlreaktion des Lenkers beruht.“
Droht jedem, der in der Schweiz mit dem Fahrrad stürzt, ein Bußgeld oder gar Gefängnis? Nein, sagt Schilling: „Es würde zu weit gehen, sämtliche Fallkonstellationen und Straffolgen abzuhandeln, die einem Fahrradfahrer drohen. Es wird der jeweils konkret vorliegende Einzelfall beurteilt.“ Genauer wird Schilling nicht. Scheinbar haben Staatsanwalt und Polizist großen Ermessensspielraum, wer bei den Eidgenossen zum Straftäter wird.
Sigi Suhr bleibt konsequent und bezahlt das Bußgeld nicht
Das gefällt Sigi Suhr überhaupt nicht. Er weigert sich, die verhängten 150 Schweizer Franken zu zahlen, nur weil er eine Schwelle übersah. Trotz mehrmaliger Aufforderung bleibt er konsequent. Es droht Gefängnis. Zwei Tage und zwei Nächte Ersatzfreiheitsstrafe.
Am 6. Januar 2020 ist es so weit. Der Freiburger tritt seine Haft in Schaffhausen an. „Sie haben mir am Morgen noch angeboten das Geld zu bezahlen. Aber ich habe es durchgezogen.“ Suhr muss sich entkleiden. Eine Leibesvisitation sparen sich die Sicherheitsbehörden. Der 66-Jährige wird Richtung Zelle geführt. Ohne Handy, ohne Zahnbürste, ohne Wertsachen. Ein Buch darf er mitnehmen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Stinkende Zelle, Erbrochenes an den Wänden
Auf Sigi Suhr wartet ein kahler Raum mit kleinem Fenster und einfachem Bett. Obwohl die Wände frisch gestrichen sind, schimmert Erbrochenes seiner Vorgänger durch. Die Toiletten und das Waschbecken waren sauber, „aber der Raum und die Bettwäsche haben bestialisch nach Rauch gestunken.“ An Schlaf ist deshalb nicht zu denken. „Es war so schlimm, dass ich starke Kopfschmerzen bekam“, erinnert sich der Freiburger.
Am zweiten Tag verliert Sigi Suhr sein Zeitgefühl. „Ich habe mich eigentlich nur an den Kirchglocken orientiert und die Stunden gezählt. Da blieb mir nichts anderes übrig.“ 45 Minuten darf er seine Zelle verlassen. Hofgang. Mit den anderen Gefangenen. „Das war schon komisch. Die liefen einfach alle im Kreis. Aber ich war froh frische Luft zu schnappen“, sagt er.
„Aber wenn ich so ein Urteil noch einmal kriege, würde ich es wieder machen.“
Am Mittwoch, 8. Januar, 8 Uhr, nach 48 Stunden Einzelhaft, haben die Strapazen ein Ende. Sigi Suhr darf die Zelle, den Gestank, die Einsamkeit, verlassen. Mittlerweile hat er die Zeit in Haft verdaut, obwohl die Erinnerungen immer wieder hochkommen. Trotzdem bereut Sigi Suhr seine Entscheidung bis heute nicht. Er bleibt seinen Prinzipien treu und sagt: „Das ist für die Schweiz natürlich nicht gerade tourismusfördernd. Aber wenn ich so ein Urteil noch einmal kriege, würde ich es wieder machen.“