Gemütlich ist es hier nicht. Der Raum ist eiskalt. Kein Fenster, kein Sofa, keine Kaffeemaschine. Nichts, was das Auge erfreut oder den Magen wärmt. Nur ein langes Gestell steht an der Wand – ein streng funktionaler Schlafsilo mit Stockbetten in drei Etagen, dazu schlichte hellblaue Matratzen. Der Schlafsaal einer Jugendherberge wirkt dagegen luxuriös. Um Luxus geht es in diesem Anti-Raum auch nicht. Es geht ums Leben, genauer gesagt: ums Überleben im Fall von Erdbeben, schwerer Flut, eines Krieges.

Ein Beispiel von vielen: Auch in der Gemeinde  Salenstein hat jeder Bürger Anspruch auf einen Platz in einem Schutzkeller unter der ...
Ein Beispiel von vielen: Auch in der Gemeinde Salenstein hat jeder Bürger Anspruch auf einen Platz in einem Schutzkeller unter der Erde. Gemeindepräsident Bruno Lorenzato zeigt den Notschlafsaal mit dreistöckig aufgestellten Betten. | Bild: Thomas Frey

Bruno Lorenzato ist Gemeindepräsident. Er führt durch den kühlen Bau. Wir sind etwa drei Meter unter der Erde. Über eine Treppe erreicht man den Schutzkeller, er liegt unter dem Feuerwehrhaus der Gemeinde Salenstein im Kanton Thurgau.

Das könnte Sie auch interessieren
Der kleine Ort ist sonst für seine sonnige Lage zwischen Bodensee und Seerücken bekannt. Von Salenstein aus schaut man auf die Reichenau und die Höri. Südlich erstreckt sich die Gemarkung Richtung Zürich. Dort im Hinterland ist der Schutzraum versenkt – einer von dreien, den die Landgemeinde für ihre 1360 Einwohner vorhält.

Dieses Gerät würde im Ernstfall für den Austausch der verbrauchten Luft sorgen.
Dieses Gerät würde im Ernstfall für den Austausch der verbrauchten Luft sorgen. | Bild: Fricker, Ulrich

Lorenzato schmunzelt. Für den Schweizer sind diese aufwendigen Anlagen unter der Erde selbstverständlich. Was bei vielen Deutschen Panik oder besorgte Fragen auslöst, gehört bei den Eidgenossen zum Alltag. Sie wachsen mit diesen Schutzbauten auf. „Die Keller sind breit akzeptiert,“ sagt der ehrenamtliche Bürgermeister Lorenzato. Sie gehören zum Schweizersein wie der Käse oder die mechanische Präzisionsuhr.

Jeder hat sein Bett im Keller

„Das Sicherheitsdenken ist bei uns weit verbreitet,“ sagt Lorenzato und weist auf die 20 Zentimeter dicke Betontür mit schwarzen Stahlriegeln. In der Schweiz neige man dazu, sich gegen alles abzusichern. Manches Mal gehe das zu weit, räumt er ein. „Wir haben den Drang, das Ganze auch zu übertreiben.“

Rechts: Die Türen im Keller sind zwanzig Zentimeter dick. Der Stahlrahmen ist mit Beton verfüllt. Gelbe Schilder sagen, was zu tun ist ...
Rechts: Die Türen im Keller sind zwanzig Zentimeter dick. Der Stahlrahmen ist mit Beton verfüllt. Gelbe Schilder sagen, was zu tun ist – schließlich wird der Ernstfall nicht geübt. | Bild: Fricker, Ulrich

Jeder der 8,6 Millionen Eidgenossen hat einen Platz und ein Stockbett in einem Keller. So will es das Gesetz, das den Schutzraum zur Pflicht macht. 300.000 dieser Bauten sind im Sou-
terrain von Schulen, Rathäusern, Feuerwehrdepots entstanden, vor allem aber in Privathäusern. Wer baut, muss einen Schutzraum errichten. Dicke Türen und Abluftanlage gehören dazu. Wer dieser Pflicht nicht nachkommen kann oder will, weil der technische Aufwand enorm ist, kann sich freikaufen. 800 Franken pro Kopf zieht dann die Gemeinde Salenstein ein, die dafür ein kommunales Plätzchen schafft.

Bunker und Keller gehören einfach dazu

Das einschlägige Gesetz wurzelt tief in der Mentalität der Schweizer. Man muss fast 100 Jahre zurückgraben, um sie zu verstehen. Der Zweite Weltkrieg hing wie ein Damoklesschwert über dem kleinen Land. Viele Bürger fürchteten einen Überfall der deutschen Wehrmacht. Die Schweizer Armee verschanzte sich damals in einer Kette von Alpenfestungen (Réduit). Der deutsche Überfall bliebt aus. Das Réduit wurde zum Mythos: Das wehrhafte Land hatte sich gewehrt gegen den übermächtigen Aggressor.

Vorbild: Das Murmeltier versteckt sich vor dem Steinadler in seinem Bau.
Vorbild: Das Murmeltier versteckt sich vor dem Steinadler in seinem Bau. | Bild: Fotolia

Das Überleben unter der Erde wurde geschickt beworben. Da kam das Murmeltier als Maskottchen gerade recht. Der Nager mit dem hellen Pfeifton verschwindet bei Gefahr im tief verborgenen Bau. Er versteckt sich vor dem Steinadler und wartet, bis der Greifvogel abgezogen ist. Die Taktik des Murmeltiers leuchtete ein – und dient als Leitfaden auch für das Überleben von Menschen, die einem übermächtigen Feind gegenüber stehen.

Die Gemeinde Salenstein nennt sich nach dem Schloss über dem Bodensee. Für den Ernstfall hält die Kommune drei Schutzkeller parat.
Die Gemeinde Salenstein nennt sich nach dem Schloss über dem Bodensee. Für den Ernstfall hält die Kommune drei Schutzkeller parat. | Bild: Ahlebrandt, Sylvia

Seitdem sind Schlagworte wie Bunker oder Festung in der Schweiz positiv belegt. „Wenn die Deutschen das Wort Schutzraum hören, denken sie an Krieg und Verschüttung. Doch wir Schweizer mögen den Untergrund. Spätestens seit dem Bau des Gotthardtunnels,“ erklärt Silvia Berger, eine Historikerin. Die Festungen mit ihrem primitiv unzerstörbaren Mobiliar und der Beton-Ästhetik sind Teil der Identität geworden. Beim Bunker denken die Deutschen an Wolfschanze und Luftangriffe – und die Schweizer an Autarkie und zähes Überleben. An nur wenigen Beispielen kann man den Unterschied zwischen beiden Ländern so einleuchtend studieren wie an den Vorkehrungen für den Fall X.

Bis heute häufig zu sehen: Ein Bunker am Schweizer Rheinufer.
Bis heute häufig zu sehen: Ein Bunker am Schweizer Rheinufer. | Bild: imageBROKER/Harald Wenzel-Orf

Nach 1945 standen in der Schweiz jede Menge Militärbunker in der Landschaft. Die meisten kann man bis heute besichtigen. Dann kam der Kalte Krieg, 1950 zündete auch die Sowjetunion den ersten atomaren Sprengsatz. Der Weltfrieden ist gefährdet, folgerten die Schweizer. Das war der Startschuss für den massenhaften Bau von Unterständen. Der größte steht in Luzern mindestens bereit: Der Sonnenbergtunnel der A2 kann im Krisenfall gesperrt werden. Auf dem Papier finden dort 20 000 Menschen Unterschlupf.

Die Kubakrise wirkte wie eine Aufforderung

1963 dann – kurz nach der Kubakrise – werden Schutzräume gesetzlich vorgeschrieben. Gemeinden und Privatleute löffelten den Boden aus und bauten mit erheblichem Aufwand. Spezielle Wände, separate Luftversorgung, dicke Türen, Schweizer Perfektion. Doch dann fiel der Kommunismus in sich zusammen, die Konfrontation der Blöcke verblasste wie ein Gespenst. Die Keller würden nicht mehr gebraucht, sie seien überflüssig, dachte man in Bern. Doch der explodierende Atomreaktor bei Fukushima belehrte viele eines Besseren. Die Schutzräume bleiben. Bruno Lorenzato sagt: „Seit dem Ende des Kalten Krieges war der Weltfrieden nie mehr so gefährdet wie heute.“

Dieser Notausgang führt durch einen runden Kanal ins Freie. Waagrecht liegend muss man sich hier bewegen.
Dieser Notausgang führt durch einen runden Kanal ins Freie. Waagrecht liegend muss man sich hier bewegen. | Bild: Fricker, Ulrich

So gibt es die düsteren und menschenleeren Räume bis heute. In Wohnhäusern werden sie meist anderweitig genutzt – vom Weinkeller bis zum Arbeitsraum. Kommunale Schutzräume sind dagegen meist leer. Im Keller von Salenstein wird ab und zu moderne Kunst ausgestellt, was in der kargen Halle einen eigenen Reiz hat. Ansonsten aber steht sie fast leer. Außer Betten und dem System für den Luftaustausch findet sich keine Infrastruktur.

Kann man hier denn überleben?

Und im Katastrophenfall? Die Schutzräume müssten tatsächlich erst ausstaffiert werden. Die Betten benötigen Decken, dazu weiteres Mobiliar. Vor allem Lebensmittelvorräte, WC, Bildschirme. Wer vor den kahlen Wänden steht, fragt sich unwillkürlich: Will ich und kann ich hier überleben?

Bild 8: Die Schweizer sind auf Krieg oder Katastrophen vorbereitet. Im Fall des Falles gehen sie in vorbereitete Schutzkeller
Bild: Fricker, Ulrich

Das ist wohl eine deutsche Frage. Die Schweizer richten sich zwischen kaltem Beton und unterirdischen Gängen irgendwie ein. Bruno Lorenzato findet das gut und richtig. Der Gemeindepräsident war als Pontonier (Pionier) selbst bei der Armee. Die würde er niemals hergeben. Er ist gegen einen EU-Beitritt seines Landes und für das Prinzip Murmeltier. Im Übrigen, so bemerkt er, finden auch Neubürger aus Deutschland die unterirdischen Keller gut: Wenn sie nach Salenstein ziehen, loben sie die Schutzräume. Sicher ist sicher.