Der Riss geht mitten durch die baden-württembergischen Grünen. Auf der einen Seite der prominenteste Südwest-Grüne, Regierungschef Winfried Kretschmann, und der Kern seiner grünen Realo-Truppe. Auf der anderen Seite: die linken Grünen, Teile der grünen Landtagsfraktion, die Grüne Jugend, der grün-affine Flüchtlingsrat, die evangelische Kirche. Der Ton ist ungewöhnlich scharf. Es geht um die Einigung der EU-Innenminister auf verschärfte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen.

Der Anlass: Kretschmann hatte diesen auch auf Bundesebene bei den Grünen heftig umstrittenen Kompromiss in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ entschieden verteidigt. Arbeitsmigration müsse legalisiert, aber irreguläre Migration eingedämmt werden, hatte er gesagt und den Kompromiss einen sehr guten Anfang genannt.

Grünen-Politiker Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, nennt die Einigung der EU-Innenminister auf verschärfte ...
Grünen-Politiker Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, nennt die Einigung der EU-Innenminister auf verschärfte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen einen „sehr guten Anfang“. Das kommt nicht überall in der Partei gut an. | Bild: Bernd Weißbrod/dpa

Ein Kompromiss, der Migranten an den EU-Außengrenzen wie in Gefängnissen leben lässt? Das wies der Grünen-Politiker zurück. „Die Leute können ja zurück. Das ist doch keine Haft“, sagte Kretschmann.

Das Aufjaulen der grünen Basis hallte mutmaßlich noch an den EU-Außengrenzen wider. Denn für einen Teil der Grünen, für viele an der Parteibasis, die in der Flüchtlingshilfe und in Arbeitskreisen Asyl aktiv sind, sind solche Äußerungen ein Tabubruch – und ein Verrat an grünen Grundprinzipien. Aber es werden immer weniger Menschen im Südwesten, die diese Position teilen.

Bild 2: BaWü-Check: Unterbringung von Geflüchteten macht den Menschen zunehmend Sorgen
Bild: Jessica Steller

Wie umgehen mit den Geflüchteten? Diese Frage droht nicht nur die Südwest-Grünen in ihren Grundfesten zu erschüttern, sondern auch die Gesellschaft. Wie groß der potenzielle Sprengsatz des Themas ist, zeigt der aktuelle BaWü-Check, die Umfrage der baden-württembergischen Tageszeitungen mit dem Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), die im Juni die Stimmungslage in der baden-württembergischen Bevölkerung untersucht hat.

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Kretschmann bediene „rechte Narrative“, kritisierten die Landessprecherinnen der Grünen Jugend, Aya Krkoutli und Elly Reich, die Äußerungen der grünen Lichtgestalt Kretschmann. Man könne nicht nachvollziehen, wie sich ein Ministerpräsident der Grünen „so unsensibel und fernab aller Tatsachen“ äußern könne. Der Asylkompromiss gehe gegen die Grundsätze der Partei.

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Der baden-württembergische Flüchtlingsrat nannte Kretschmanns Äußerungen gar „menschenverachtend“ und einen Beitrag zur Stärkung der Rechtspopulisten, sie schürten „rechtsextreme Szenarien der Überfremdung“. Kretschmanns Äußerungen sind wohl nicht nur der parteiinternen Positionierung des 75-Jährigen als Ultra-Realo geschuldet, sondern blanken Regierungsnotwendigkeiten.

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Landkreise und Kommunen signalisieren der Landesregierung täglich, dass das Ende der Unterbringungskapazitäten vor Ort längst überschritten ist, dass durch die überlastete Infrastruktur vor Ort – Kindergärten, Schulen, ärztliche Versorgung, Wohnungssituation, Integration – nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die Bürger vor Ort einen zunehmend hohen Preis bezahlen müssen.

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Gemeindetags-Präsident Steffen Jäger sagte nach Kretschmanns TV-Auftritt: „Die Kapazitäten zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sind erschöpft. Es ist wichtig, dass der Ministerpräsident die Wahrheit und Notwendigkeit einer europäischen Lösung klar anspricht.“ Jäger wiederholte die Forderung an Bund und Länder, nur noch Menschen mit einer Bleibeberechtigung auf die Kommunen zu verteilen.

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Das Justiz- und Migrationsministerium ringt seit Monaten landesweit vergebens um neue Standorte für Landeserstaufnahmen und Erstaufnahmen. Die Situation ist so brisant, dass Kretschmann bereits ankündigte, im Notfall eine bisher eiserne Linie zu verlassen: die stille Vereinbarung, dass eine neue Flüchtlingseinrichtung nur im Einvernehmen mit der Kommune vor Ort eingerichtet wird.

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Wo Namen ins Spiel gebracht und Standorte geprüft werden, formiert sich Widerstand – wie in Pforzheim oder bei Ludwigsburg. Es sind nicht in erster Linie die Rechtspopulisten, die dazu aufrufen – aber sie nutzen die Sorge der Bürger, um nicht nur gegen die Aufnahme weiterer Geflüchteten zu trommeln, sondern generell ihre ausländerfeindlichen Parolen vorzubringen.

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Es ist bezeichnend, von welcher Seite Kretschmann nach seinen Aussagen Unterstützung bekam: von der Jungen Union und dem FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Selbst Anton Baron, Fraktionschef der Landtags-AfD, nahm den grünen Regierungschef halbherzig in Schutz, freilich nicht ohne dessen Äußerungen dann als „Scheindebatte“ zu bezeichnen.

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Alarmierend ist: Der Politik und den Parteien trauen die meisten Bürger nicht zu, eine Lösung zu finden. Das Vertrauen der Menschen in alle Parteien ist im Südwesten äußerst gering. Der Umfrage zufolge gibt es keine Partei, der in nennenswertem Maß Kompetenz im Umgang mit der Flüchtlingssituation zugeschrieben wird.

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Noch am ehesten trauen die Bürger dies der CDU und der AfD (jeweils zwölf Prozent) zu, allerdings kaum mehr als den Grünen (zehn Prozent) oder der SPD (acht Prozent). Praktisch gar keine Kompetenz, wie der Problematik zu begegnen ist, sehen die Menschen im Land allerdings bei der FDP: Nur zwei Prozent der Befragten nennen die Liberalen.

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Die Mehrheit der Bevölkerung (53 Prozent) ist entweder der Ansicht, dass keine Partei in Baden-Württemberg überzeugende Konzepte zur Flüchtlingspolitik hat, oder zweifelt daran, dass es überhaupt funktionierende Konzepte gibt. Was die Politik seit Monaten zur Schau trägt, ist damit offenbar auch bei den Bürgern angekommen: Ratlosigkeit im Umgang mit der schieren Größe der Aufgabe.