Freiwilligkeit statt Pflicht. Auf diese Strategie setzt Deutschland bei den Corona-Impfungen. Aufklärung soll die Impf-Bereitschaft steigern und nicht Zwang. Auch keine Vorteile für Geimpfte, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) gerade entgegengehalten wird. Er brachte jüngst Ausnahmen – etwa für Restaurantbesuche – für bereits geimpfte Menschen ins Spiel. Kritiker sagen: Das könnten Impf-Skeptiker als Pflicht durch die Hintertür verstehen.
Graubünden geht Sonderweg: Testen und Impfen statt Quarantäne
In der Schweiz ist die Impfung gegen Covid-19 ebenfalls freiwillig. Auch in Graubünden. Privilegien können die Menschen im Alpen-Kanton ganz im Osten der Schweiz dennoch bald genießen: Tests und Impfungen statt Quarantäne ist dort die neue Maxime.
Pikant: Die Quarantäne fällt nicht nur für die knapp 200.000 Bewohner weg, sondern auch für einreisende Touristen aus Risikogebieten – sofern sie bereits geimpft sind oder mit Corona infiziert waren.
Kosten für das Projekt: Mehr als 23 Millionen Euro
Die kantonale Regierung sieht sich damit in einer „Pionierrolle in der Schweiz„. Es ist ein Sonderweg, selbst innerhalb der Schweiz, in der ohnehin mehr Freiheiten als in anderen Ländern herrschen. 25 Millionen Franken (23,2 Millionen Euro) lässt sich der Kanton die Umsetzung des Impf- und Test-Konzepts bis August 2021 kosten.
Warum Graubünden ausschert? „Aus epidemiologischer und infektiologischer Perspektive macht es keinen Sinn, immune Personen in Einreise-Quarantäne zu schicken“, sofern diese geimpft sind oder bereits erkrankten, begründet ein Sprecher des Kantons auf Anfrage des SÜDKURIER.
Nationales Gesundheitsamt Graubündner Weg „eine Art Pilotprojekt“
Das nationale Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist etwas vorsichtiger mit seiner Bewertung des Sonderwegs. Dort betrachte man „das als eine Art Pilotprojekt“, erklärt Pressesprecher Daniel Dauwalder. Eventuell würde man daraus „Schlüsse für unsere Teststrategie ziehen“. Das BAG betont aber auch, dass der Graubündner Weg nicht für alle Regionen sinnvoll sei.
Wie sieht das Konzept des Kantons aus?
Die bisherigen neun Bündner Test- werden im Laufe des Januars zusätzlich zu Impfzentren ausgebaut. Doch in den Zentren soll das Projekt nicht enden. Schüler und Lehrer sollen sich alle zwei Wochen an Schulen, Berufstätige direkt am Arbeitsplatz testen lassen, sofern sich der Betrieb dafür eignet und bereit erklärt. Das regelmäßige Testen ist wie das Impfen für die Bürger freiwillig.
Schmackhaft macht es ihnen der Kanton allemal: Gesunde Menschen müssen nicht mehr zehn Tage in häusliche Isolation, wenn sie Kontakt zu einem Infizierten hatten. Tägliche Tests ersetzen die Quarantäne.
Überzeugung: R-Wert kann „nachhaltig tief“ gehalten werden
In Graubünden ist man nach Pilottests davon überzeugt, den R-Wert (Zahl der Menschen, die eine infizierte Person im Schnitt ansteckt) „nachhaltig tief unter 0,89“ halten zu können, „wenn 30 Prozent der Arbeitnehmer wöchentlich getestet werden“. Aus epidemologischer Sicht gilt ein R-Wert von dauerhaft unter eins als wichtig.
Ein Sprecher des Kantons: „In allen Regionen, in denen Flächentests durchgeführt wurden, war die Zahl der Neuansteckungen für mindestens fünf Tage rückläufig.“ Ungeklärte Fragen gibt es dennoch. So ist bislang nicht klar, ob bereits Geimpfte dennoch andere Menschen anstecken können. Ob dies in der Bewertung der Bündner Strategie eine Rolle spielt, wird von den Behörden nicht beantwortet.

Was heißt das für Touristen die auf die Pisten wollen?
Der Kantons-Sprecher teilt ferner mit: Wer zweimal geimpft oder in den vergangenen drei Monaten positiv auf das Coronavirus getestet wurde, muss nicht in Quarantäne. Auch nicht bei einer Einreise aus einem der verhältnismäßig wenigen Risikogebiete, zu denen das Schweizer Gesundheitsamt jüngst weitere Länder (Dänemark, Niederlande, Panama und Tschechien) hinzufügte.
Kanton sieht sich bei Sonderweg im Recht
Graubünden beruft sich bei seinem Sonderweg auf die schweizweite Verordnung für den internationalen Reiseverkehr. „Diese sieht vor, dass Kantone bei der Einreise-Quarantäne Ausnahmen gewähren können“, so der Kantons-Sprecher gegenüber dem SÜDKURIER. Ausgenommen sind aktuell nur Großbritannien und Südafrika. In diesen Ländern wurden zuerst Mutationen des Coronavirus registriert, bei denen die Gefahr einer Verbreitung nach ersten Studien höher sein soll.

Ohnehin scheint Graubünden gerne seinen eigenen Kurs fahren zu wollen – und stößt damit auch auf Unmut der Schweizer Bundesregierung, wie mehrere Schweizer Medien berichten. Nicht nur sind dort, anders als in anderen Kantonen, Ski-Pisten und -Lifte für eine begrenzte Personenzahl geöffnet. Zuletzt wurde sogar auf den Restaurant-Terrassen gegessen und getrunken. Die Kritik des Bundesamts für Gesundheit blieb nicht aus. Ein Sprecher ließ ausrichten: „Die Benutzung der Terrassen ist nicht konform.“
Stecken hinter der Strategie auch wirtschaftliche Interessen?
Der Tourismus ist von außerordentlicher Bedeutung für den von Bergen umgebenen Kanton. Besonders im Winter sorgt das Geschehen rund um Wintersport-Hochburgen wie St. Moritz, Davos/Klosters oder Arosa für reichlich Einnahmen.

Laut kantonaler Angaben schafft die Branche mehr als 25.500 Vollzeit-Arbeitsplätze und spült um die 3,3 Milliarden Franken (3,1 Milliarden Euro) in die Kassen. Der Tourismus sorge so für etwa ein Drittel der Wertschöpfung im Kanton.
Corona setzte dem zu. Die Zahl der Übernachtungen in der Wintersaison 2019/20 lag bereits fast elf Prozent unter dem Fünfjahres-Mittel, dabei spielte das Virus in Europa erst ab Anfang 2020 eine Rolle. Trotzdem wurden noch 2,4 Millionen Übernachtungen erfasst. Wobei deutsche Gäste mit circa 385.000 den mit Abstand höchsten ausländischen Anteil ausmachten.
Kanton: „Brauchen ein Umdenken in der Bekämpfung des Virus„
So wird auch klar, warum Graubünden allein für Massentests zu Investitionen von bis zu 12 Millionen Franken bereit ist. Zwar betont der Kanton, dass die Strategie dazu diene, Risikogruppen zu schützen und die Pandemie einzudämmen, „um das Gesundheitswesen in Graubünden vor einer Überlastung zu schützen“.
Aber war der Auslöser für die „Pionierrolle der Schweiz„ nicht vielleicht auch ein wirtschaftlicher? Darauf gibt der Kanton nur ausweichende Antworten. Man sei jedenfalls „der Überzeugung, dass es in der Bekämpfung des Virus ein Umdenken braucht“. Und das Konzept Impfen-und-Testen „ermöglicht eine schrittweise Rückkehr in eine gewisse Normalität“.

Hotels in St. Moritz wegen mutiertem Virus abgeriegelt
In St. Moritz ist man von dieser Normalität gerade weit entfernt. Das Gesundheitsamt Graubünden meldete am Montag (18. Januar) in zwei luxuriösen Hotels rund ein Dutzend Fälle des hochansteckenden mutierten Coronavirus. Schulen und Ski-Schulen wurden bis auf Weiteres geschlossen, in der gesamten Gemeinde besteht Maskenpflicht und: In beiden Hotels wurde Quarantäne angeordnet, für Dienstag ist ein Massentest für die Bevölkerung angeordnet.
Ein erster Stresstest für die Graubündner Strategie steht damit wohl bevor.