Martin Witt kennt den Anblick von Toten. „In meinem Beruf komme ich immer, wenn alles schon passiert ist“, sagt der Kriminaltechniker aus Südniedersachsen. Er fotografiert an Tatorten, unterstützt bei der Leichenschau. Die Erfahrung hilft ihm, sein Ehrenamt nicht zu nah an sich rankommen zu lassen: Witt arbeitet für die Stiftung „Dein Sternenkind“, ein Fotografennetzwerk für trauernde Eltern.

Auf deren Wunsch fotografiert Witt totgeborene Kinder oder solche, die kurz nach der Geburt sterben: „Sternenkinder“. Trotz aller beruflichen Erfahrung mit Leichen muss Witt bei seinen ehrenamtlichen Einsätzen manchmal schlucken. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2020 wird er gerufen – tote Drillinge.
Wenn das Kind geht
„Das war tragisch“, sagt er. Ein anderes Mal wird er geholt, um ein noch lebendes Baby zu fotografieren. Aber: Es ist absehbar, dass es nicht überlebt. Noch bevor Witt wieder zu Hause ist, erhält er den Anruf: „Da war das Kind schon gegangen.“
Vor vier Jahren erzählte ihm eine Freundin, dass sie vor vielen Jahren ihr Neugeborenes verloren hatte. Die einzige Erinnerung an ihr Kind: ein verpixeltes Handyfoto. Die Kameras waren damals noch nicht so gut.

Witt beschloss, Eltern ein würdevolles Andenken an ihr totes Kind geben zu wollen. Er recherchierte im Internet und fand die Stiftung Dein Sternenkind. Gut 600 Fotografinnen und Fotografen sind quer durch die ganze Bundesrepublik darin organisiert.
Stirbt ein Baby, können Eltern oder Krankenhäuser die Freiwilligen kostenlos anfordern. Witt schickt ihnen die CD mit den Fotos und bittet darum, Bescheid zu sagen, dass sie angekommen ist. Meist hört er nichts. „Aber dieses stille Verabschieden ist schon ein Ausdruck von Dankbarkeit“, findet der 48-Jährige.
Auf der Internetseite der Stiftung schildern Eltern ihre Erfahrungen, ihre Verzweiflung, ihre Trauer. Eine Frau erwartete Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen Freya überlebt nicht. „Wir haben die Welt nicht mehr verstanden. Unsere Welt stand still“, schreibt sie.
Ein Bild zu dritt
Ein Sternenkind-Fotograf kam auf ihren Wunsch hin in die Klinik. „Er fragte uns nach unseren Wünschen bezüglich der Fotos. Doch wir hatten nur einen: ein Bild zu dritt. Dies erfüllte er uns.“

Dein Sternenkind gibt es seit 2013. Die Stiftung bekam unter anderem den Deutschen Engagementpreis. Vergangenes Jahr rückten die Fotografen zu mehr als 3200 Einsätzen aus. Helferinnen und Helfer werden dringend gesucht. „So hatten wir im Januar trotz hartem Lockdown 324 Einsätze – die höchste monatliche Einsatzzahl seit Bestehen von Dein Sternenkind“, sagt Stiftungssprecher Oliver Wendlandt.
Erst einmal werden die Kinder angezogen
Ein Kind stirbt – wie geht man als Fotograf in eine solche Situation, was ist besonders wichtig? „Die Wünsche der Eltern“, sagt Kriminaltechniker Witt. Zuerst einmal zieht er die Kinder an. Sie sollen nicht schutzlos wirken auf den Bildern.
„Würdevoll, das ist wichtig.“ Manche Kinder kommen mit Fehlbildungen zur Welt. Im Strampler fällt das kaum auf. „Berührungsangst habe ich nicht“, sagt Witt. Für seine Arbeit erhielt er 2020 den Ehrenamtspreis der Gewerkschaft der Polizei.
Ein Gesicht zum Kind
Was bringt es den Eltern, ein Foto von ihrem Kind zu haben? „Es ist wichtig, noch ein Gesicht zu dem Kind zu haben“, findet Witt. Die Eltern müssten die Bilder ja nicht direkt aufstellen. Macht man es aber nicht direkt nach der Geburt, kommt die Chance kein zweites Mal. „Diesen Moment kann man nicht wiederholen.“
In Salem am Bodensee arbeitet der Fotograf Klaus Faaber seit August 2020 ehrenamtlich bei der Initiative mit: „Ich wollte schon länger etwas Gutes tun mit dem, was ich kann“, erklärt er. Manchmal rufen ihn die Hebammen direkt an, meist wird er aber über die Initiative alarmiert. Etwa 100 Kilometer fährt er, wenn ein Anruf eingeht, wenn nötig, auch noch mehr. Alles ehrenamtlich.
„Ein Kind, das sehnlichst erwartet wurde“
Bei seiner Arbeit sehe er nicht das tote Kind, „sondern ein Kind, das sehnlichst erwartet wurde und geliebt wird“. Manchmal wüssten die Eltern schon länger, dass ihr Kind nicht lebensfähig sei, und hätten bereits Zeit gehabt, sich zu verabschieden. Bei anderen Kindern komme der Tod sehr überraschend. „Das sind dann oftmals sehr emotionale Einsätze, die mich auch noch Tage oder Wochen beschäftigen“, erzählt Faaber.
Wie geht man so eine traurige Aufgabe an? Faaber erklärt, es gehe darum, die Kleinen „so liebevoll und zärtlich wie möglich zu fotografieren“. Manchmal geben die Eltern ein Spielzeug dazu oder etwas Selbstgebasteltes. Danach erhalten die Eltern die Foto-Dateien, eine Kopie geht immer auch an die Initiative Dein Sternenkind.
Es gibt keine zweite Chance
„Die Eltern können sich die Bilder ansehen, wann immer sie möchten oder bereit dafür sind: Das kann heute, in ein paar Wochen oder erst in einem Jahr sein – wichtig ist nur, dass es diese Aufnahmen dann gibt. Es gibt keine zweite Chance für diese Bilder.“
Zwei- bis dreimal pro Monat wird Klaus Faaber bisher zu den Eltern gerufen. Die Mütter und Väter seien unendlich dankbar, dass es jemanden gebe, der diese Bilder mache. Vor Kurzem war er bei einer Familie, die ihre zweite Fehlgeburt erlitten hatte. „Die Mama hat sich immer wieder bei mir bedankt, weil es von ihrem ersten Kind nur selbst gemachte und verpixelte Handyaufnahmen gibt“, sagt Faaber.
„Es hilft den Eltern bei der Verarbeitung“
Die Bilder schafften den Familien wichtige Erinnerungen und: „Es hilft den Eltern bei der Verarbeitung.“ Faaber hat das Gefühl, hier wirklich wertvolle Aufnahmen zu machen. Angesichts solchen Leids verblasse auch so manches Alltagsproblemchen, hat er beobachtet: „Das erdet einen.“
Sternenkinder
Viele Eltern trauern sehr um ihre tot geborenen Kinder. Erst seit 2013 ist es nach einer Gesetzesänderung möglich, diese Kinder standesamtlich eintragen und damit als Person registrieren zu lassen. In Selbsthilfegruppen können verwaiste Eltern sich mit anderen Leidtragenden austauschen und Unterstützung finden. Adressen unter:https://www.veid.de/hilfe-fuer-betroffene/ansprechpartner-vor-ort/landesverbaende-regionalstellen/