„Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel. Und dann flog ich furchtbar lang – und erreichte den Himmel.“

Soja Fedotova, 13 (20.8.1988-1.7.2002)

Ein Feuerball stand in der sternklaren Nacht über der Stadt, es folgte ein beißender Geruch von Flugzeugbenzin, der sich über die Bodenseeregion legte. Erst im Morgengrauen wurde das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Flugzeugtrümmer, Kleidungsstücke, Körper von Erwachsenen und Kindern lagen nördlich von Überlingen auf einer Fläche von 30 Quadratkilometern verstreut – auf Wegen, Feldern und auf Bäumen.

Ein Bild des Grauens und des Leids, das sich ins Gedächtnis der Menschen eingebrannt hat. Vor 20 Jahren, am späten Abend des 1. Juli 2002 stießen eine Frachtmaschine der DHL und eine russische Passagiermaschine 11 Kilometer über der Stadt am Bodensee zusammen. Bei dem Unglück starben 71 Menschen, darunter 48 Kinder auf ihrem Flug in die Ferien nach Spanien.

Seit 20 Jahren kommen Angehörige aus Baschkirien ebenso wie Freunde der beiden DHL-Piloten aus Kanada an den Bodensee, um ihrer Liebsten zu gedenken.

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Willkommen, aber nicht eingeladen

In diesem Jahr ist alles anders. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine halten sich Stadt und Land Baden-Württemberg gegenüber den russischen Gästen demonstrativ zurück. Sie seien zwar willkommen, heißt es offiziell. Einladungen aber, die die Menschen in Baschkirien jetzt dringend für ein Visum bräuchten, werden nicht ausgesprochen. Damit ist die Reise für viele Angehörige unmöglich.

Der SÜDKURIER sprach mit Angehörigen aus Ufa, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Baschkirien. Sie fühlen bis heute eine tiefe Dankbarkeit gegenüber der Stadt, den Helfern und den vielen Menschen, die über die Jahre zu ihnen gehalten haben. Und sie leiden 20 Jahre nach dem Verlust ihrer Liebsten an den Folgen der Katastrophe.

Marina Belova und Tamara Pospelova erzählen von den Menschen, die sie bei der Katastrophe verlieren sollten und die sie bis heute in ihren Herzen tragen. Sie erzählen von ihrer Hoffnung, ihnen am Absturzort wieder nah sein zu dürfen. In diesem Jahr werden sie mit ihrer Trauer allein sein. Zur Gedenkfeier nach Überlingen dürfen sie nicht kommen.

Über WhatsApp sprachen wir mit Angehörigen. Nadja Wintermeyer vom Freundeskreis Brücke nach Ufa übersetzte aus dem Russischen.

Marina Belova in Ufa.
Marina Belova in Ufa. | Bild: privat

Marina Belova lebt in Ufa, 4000 Kilometer östlich von Überlingen. In der Nacht zum 2. Juli 2002 verlor sie ihre 13-jährige Tochter Soja, ein fröhliches, begabtes Mädchen. Marina spricht sehr gefühlvoll über ihre Soja, als würde die Kleine noch leben. Und trotzdem fällt es ihr schwer, ihre Stimme stockt immer wieder, sie ringt nach Worten. „Das Flugzeugunglück hat mein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt“, sagt die Mutter dreier Töchter.

Soja war ihre Jüngste und gehörte, wie die anderen Kinder im Flugzeug zu den besonders begabten ihrer Schule. Ihre Tochter hatte acht Klassen absolviert, nach Einschätzung der Rektorin sei sie damals auf dem Weg zur Besten ihrer Schule gewesen. Sie war wissensdurstig, lernte schnell, hatte viele Hobbys. „Meine Tochter als Teenager, dieses Bild trage ich heute in mir“, sagt sie.

Ein Bild, das sie per WhatsApp schickt, zeigt das Mädchen lachend mit ihrem Lieblings-Wellensittich auf dem Kopf. „Heute wäre Soja 35 Jahre alt, aber ich sehe sie immer noch als Jugendliche.“

Soja Belova aus Baschkirien, damals 13, mit ihrem Lieblings-Wellensittich auf dem Kopf.
Soja Belova aus Baschkirien, damals 13, mit ihrem Lieblings-Wellensittich auf dem Kopf. | Bild: privat

Soja war empfindsam, nachdenklich, sie schrieb Geschichten und Gedichte. „Anfang 2002 hatte es sehr viel geregnet, und sie schrieb in ihr Tagebuch: Wer hat dem Himmel sowas angetan, warum gießt es so, dass der Meeresspiegel steigt? Wenn sie über das Schreiben sprach, sagte sie: Ich sitze da, und diese Gedichte kommen von alleine. Und sie saß da, schrieb, strich durch und schrieb weiter.“

In dem Tagebuch, das die 13-Jährige verfasste, fand ihre Mutter nach dem Unglück ein Gedicht, das sie wenige Monate vor ihrem Tod geschrieben hatte: „Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel. Und dann flog ich furchtbar lang – und erreichte den Himmel.“ Marina Belova nennt es „eine Art Prophezeiung“.

Das Gedicht wurde nach der Katastrophe bekannt. Heute stehen die Zeilen an einem Holzkreuz, das an der Stelle steht, wo Sojas Körper zu Boden fiel. Und sie erinnert sich an eine besondere, für sie wichtige Begegnung am ersten Jahrestag 2003. „Wie ein Polizist mit einem Bart auf mich zuging und sagte: Ich habe Ihre Tochter gefunden. Er hat mir beschrieben, wie sie aussah.“

Sojas Gedicht in ihrem Tagebuch. Sie schrieb es am 31. Januar 2002.
Sojas Gedicht in ihrem Tagebuch. Sie schrieb es am 31. Januar 2002. | Bild: Marina Belova

Auch Sojas Tagebuch ist für die Mutter von besonderem Wert. „Ich hatte angefangen ihre Gedichte zu lesen und kam zu dem Schluss, dass ich sie nicht alle veröffentlichen darf. Denn es schrieb ein Teenager, sehr persönlich, das ist nur für unsere Familie.“

Die jungen Menschen, die damals bei der Flugzeugkatastrophe ums Leben kamen, hatten den Ferienaufenthalt für ihre guten Schulnoten bekommen. Bis heute ist es eine Tragödie für das ganze Land. Angehörige wie Marina Belova suchen noch immer eine Antwort. „Ich war neulich in Moskau in der Christus-Erlöser-Kathedrale. Ich habe den Priester gefragt, warum gerade diese Kinder, warum, und warum nimmt Gott so gute Menschen?“ Sie macht eine längere Pause, schluckt und wischt sich eine Träne ab.

Den Menschen am Bodensee dankbar

Umso dankbarer ist sie den Menschen am Bodensee für ihre Hilfsbereitschaft, ihre Anteilnahme. „Vom ersten Moment an, an dem ich in Baden-Württemberg und in dieser Gegend war, habe ich es gespürt,“ sagt sie und erinnert sich an die Ernsthaftigkeit, mit der versucht wurde, den Hinterbliebenen in ihrem Schmerz gerecht zu werden: „Unter den Sachen, die gefunden wurden, war auch eine Zeitung, die ich meiner Soja für unterwegs gekauft hatte.“

Wir sprechen mit Tamara Pospelova aus Ufa. Katya, ihre Tochter, war damals 29. Sie lehrte Pädagogik an einer der Universitäten in Ufa, sie leitete auch das Ausbildungszentrum für Erlebnispädagogik. „Katya begleitete die Kinder auf dieser Reise, weil sie davor schon viele von ihnen kannte und ihre Eltern sie darum gebeten hatten, obwohl sie selbst nicht unbedingt wollte“, erklärt ihre Mutter.

Tamara Pospelova aus Ufa mit ihrer Enkelin auf dem Arm. Im Hintergrund sind Bilder ihrer Tochter Katya. Bild: privat
Tamara Pospelova aus Ufa mit ihrer Enkelin auf dem Arm. Im Hintergrund sind Bilder ihrer Tochter Katya. Bild: privat | Bild: privat

„Mit Kindern kann nur arbeiten, wer voller Freundlichkeit, Geduld und Liebe für die Arbeit ist. Und Katya war einfach so, nachdem sie diese Eigenschaften von ihrer Großmutter geerbt hatte, sie war Lehrerin von Beruf. Außerdem war Katya ein sehr leichter und fröhlicher Mensch, mit einem ständig strahlenden Lächeln im Gesicht, das bis jetzt immer noch Wärme ausstrahlt, wenn man sich Katyas Fotos ansieht.“ In der Wohnung hängen viele Bilder ihrer Tochter an der Wand, die Katya lachend und fröhlich zeigen. Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben, wenn man sie ansieht.

Katya Pospelova
Katya Pospelova | Bild: Nils Köhler

„Die ersten Tage nach Katyas Tod vergingen für mich wie in Trance“, erinnert sich Tamara Pospelova. „Als wir an der Absturzstelle ankamen, konnte ich nur vor Kummer weinen. Ich war unfähig zu glauben, dass meine Katyusha nicht mehr am Leben ist. Es war ein sehr harter Tag, aber es gab Leute um uns herum, die ihr Bestes gegeben haben, die versucht haben, uns zu helfen“, erinnert sie sich an die bitteren Stunden in Überlingen am Wrack der zerschellten Tupolew in Brachenreuthe.

„Polizisten und Feuerwehrleute, Lehrer der örtlichen Schulen und Freiwillige, alle sorgten für uns und zeigten ein hohes Maß an Sensibilität. Es war offensichtlich: Die Tragödie war auch ihr persönliches Unglück, und sie waren hier nicht nur im Dienst, sondern aus einem aufrichtigen Wunsch, unsere Trauer irgendwie zu lindern.“

„An diesem Tag und bei späteren Besuchen in Überlingen lernten wir uns kennen – unsere jetzt sehr nahen deutschen Freunde“, erklärt Tamara Pospelova. „Es sind Menschen, für die das Datum, der 1. Juli, keine leere Phrase ist, denn seit 20 Jahren gedenken sie der Opfer dieser schrecklichen Nacht. Der Austausch mit ihnen füllt mit Wärme den Abgrund, der in unseren Herzen nach dem Tod unserer Lieben aufgerissen wurde.“

Für Tamara Pospelova hat Überlingen eine besondere Bedeutung: „Es ist ein Ort, der mich trotz all der Jahre irgendwie mit meiner geliebten Tochter verbindet. Wenn ich auf das Feld in der Nähe der Schule in Brachenreuthe komme, wo sie gefunden wurde, sehe ich die Stadt und den wunderschönen See, der sich unter mir ausbreitet. Mein Herz ist erfüllt von heller Traurigkeit, und in diesem Moment scheint es mir, als wäre Katya in der Nähe.“