Montagabend, 28. Oktober 2024, ein Haus am Schatzberg in Überlingen, lautes Gepolter: Eine Frau im Erdgeschoss schreckt auf, läuft zur Wohnungstür, wirft einen Blick in den Hausflur. Ihr Lebensgefährte folgt. Wieder ein Poltern.
Als beide ein Wimmern hören, geht er hoch. „Hey, was ist das los“, ruft er und klopft an die Tür. Ein geröcheltes „Hilfe“ dringt durch. Dann Stille, dann Panik.
Er klopft fester, während seine Freundin den Notruf wählt. Dann schmeißt sich der Mann gegen die Tür. Immer wieder. Dutzende Male, ehe die Tür endlich nachgibt. Als die Tür auffliegt, sieht er: Chaos, Scherben, seine Nachbarin in einer Blutlache, kaum ansprechbar. Die Balkontür steht offen, der Lebensgefährte der Frau liegt am Boden vor dem Haus und krümmt sich vor Schmerzen. Dann trifft die Polizei ein.
Ohne ihre Nachbarn, wäre sie wohl gestorben
Sechs Monate später schildert der Mann jenen Abend als Zeuge vor dem Landgericht Konstanz. Und so wird deutlich: Ohne ihre Nachbarn hätte die 52-Jährige aus dem ersten Stock diese Nacht wohl nicht überlebt. Auf der Anklagebank sitzt ein 60-jähriger leitender Arzt aus Österreich, der damalige Partner der Frau.
Er wird wegen versuchten Totschlags und gefährlicher schwerer Körperverletzung angeklagt. Er soll den Kopf seiner Freundin mehrfach heftig auf den Boden geschlagen, bevor er zu zu weiteren Gegenständen griff. Die Frau erlitt lebensbedrohliche Kopfverletzungen, wurde ins künstliche Koma versetzt.
Nach der Tat sprang der Angeklagte etwa vier Meter vom Balkon, und verletzte sich dabei ebenfalls schwer, aber nicht lebensgefährlich. Was ist hier passiert?
Sie ging, er folgte
Es ist ein Fall, bei dem Gewalt in den eigenen vier Wände eskalierte. Eine Tat, die sich nicht anbahnte, ohne Bedrohungen oder andere Warnsignale. In den ausgewerteten Chats gibt es keine Hinweise. Auch eine Trennung stand vor diesem Tag eigentlich nicht zur Debatte. Das Paar hatte schon einen Urlaub in wenigen Tagen gebucht.

Arzt: Bin über mich entsetzt
Ende April verliest die Rechtsanwältin des Mannes, die Konstanzer Strafverteidigerin Vera Eberz, nun eine Erklärung vor Gericht: Trotz Erinnerungslücken räumt ihr Mandant den Tatvorwurf ein. Zwar könne er keine genauen Angaben zum Geschehen machen, weil er es nicht mehr, er wolle aber die volle Verantwortung für die Verletzungen übernehmen. „Der Tötungsvorsatz wird nicht bestritten.“
Danach spricht der Arzt selbst: Er sei fassungslos über sein Handeln. Auch wenn er weiß, dass er nichts tun kann, um es wieder gut zu machen. Er sei entsetzt und zutiefst betroffen, die Entschuldigung könne gar nicht groß genug sein. Es tue ihm entsetzlich leid, er könne das nicht erklären.
„Ich habe ihn geliebt, er hat mich geliebt“
Der Frau, der er das antat, ist zu diesem Zeitpunkt nicht im Raum. Die Nebenklägerin ist die erste Zeugin, die in Saal 1.60 Platz nimmt. In ihrem Gesicht sind Narben aus jener Nacht zwar verheilt, aber noch zu erkennen. Der Schmerz sitzt tiefer.
Wie geht es ihr? „Ich bin wie in einem Traum, ganz komisch, schlecht, traurig. Mein Herz tut weh, alles tut weh“, sagt sie. Sie ist nicht gekommen, um zu vergeben. Sie will verstehen, sagt die 52-jährige Französin, das Warum wissen. „Ich habe ihn geliebt, er hat mich geliebt.“
Ob dieses Warum aber durch diesen Prozess am Landgericht Konstanz beantwortet werden kann, kann ihr der Vorsitzende, Richter Arno Hornstein, nicht versprechen. Die Frage nach dem Warum, stellen sich alle zuerst, sagt Hornstein. Man bleibe sehr oft ohne Antwort, möglicherweise gebe es auch keine Erklärung.
Den Brief, den er ihr nach seiner Festnahme schrieb, hat sie nicht gelesen, sagt ihr Anwalt Sylvester Kraemer später. Einen Täter-Opfer-Ausgleich, der das Strafmaß beeinflussen würde, kam trotz aller Bemühungen der Verteidiger bisher nicht zustande. 80.000 Euro habe man der Frau geboten, deren Zustimmung noch offen ist.
Sie ging, er folgte
Der 60-Jährige und die 52-Jährige lernten sich Ende 2021 über Tinder kennen. Beide haben Kinder aus früheren Beziehungen. Sie zog zu ihm nach Wien, baute sich sich in der Gastronomie eine neue Existenz auf, ehe es sie in ihre Wohnung nach Überlingen zu ihrer Familie zurückzog.
Seine Eifersucht, die Kontrollversuche störten sie. Er sagt, er lerne von ihr. Sie habe doch ein großes Herz. Er, der leitende Arzt, verkaufte die Villa im Wiener Umland, zog hinterher, suchte sich eine andere, schlechter bezahlte Stelle in Zürich, um bei ihr sein zu können. Sie sagte, sie brauche mehr Freiheit von ihm.
Was geschah nun im Oktober?
Wohl wie am 28. Oktober: Da stand er plötzlich in der Wohnung in Überlingen und war nicht in seiner Wohnung in Zürich. Er hatte ihr geschrieben, dass er in wenigen Minuten da sein würde.
Am Telefon hatte sie ihm zuvor gesagt, sie habe seine ständigen Anrufe satt. Gerade hatte sie von ihrem Sohn erfahren, dass ein Freund verstorben sei. Ein Gespräch mit ihm war ihr wieder zu viel. Als er dann fürchtete, sie wolle die Beziehung beenden, es gebe „kein Uns mehr“, griff er an.
Er legte seine Hände an ihren Hals, brachte sie zu Boden, schlug mit mehreren Gegenständen auf ihren Kopf ein. Vor Gericht sagte die Frau, er habe wie eine Maschine gehandelt, sie habe nur das Weiß in seinen Augen gesehen. Mindestens acht heftige Schläge, wahrscheinlich aber deutlich mehr, stellte später ein rechtsmedizinischer Sachverständiger fest. Sie erlitt einen Schädel-Basis-Bruch.
„Affektiver Ausnahmezustand“
Der psychiatrischen Gutachter bescheinigte dem Angeklagten zur Tatzeit einen affektiven Ausnahmezustand. Er fand keine Anzeichen für psychische Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen, auch keine Hinweise auf eine bewusste Täuschung im Gespräch. Sein Gegenüber, der Angeklagte, ist selbst Neurologe, verfügt auch über eine psychiatrische Expertise.
Der Prozess wird am Anfang Mai fortgesetzt. Dann soll bereits plädiert werden.