Genug zu essen hat er dabei: 400 Päckchen für 105 Tage hat er gepackt. „Ich habe das Gefühl, das Boot besteht nur aus Nahrungspäckchen“, erzählt Martin Stengele Ende Oktober, sechs Wochen vor dem Start. Auf dem Speiseplan stehen Chili con Carne, vegetarischer Gemüseeintopf, Reis, Nudeln. Was Weihnachtliches ist nicht darunter.
Damit kommt der Mann, der aus Orsingen-Nenzingen (Landkreis Konstanz) stammt, täglich auf 3000 Kilokalorien, die restlichen 1200 muss er mit Müsliriegeln abdecken. Alles ist genau berechnet bei der Atlantic Challenge, die der 54-Jährige seit dem 12. Dezember bestreitet.
5000 Kilometer von den Kanaren bis in die Karibik
Von der Insel La Gomera, die zu den Kanarischen gehört, bis nach Antigua in der Karibik reicht die Strecke, die die Ruderer, allein oder zu mehreren, zurücklegen. Rund 5000 Kilometer. Die Organisatoren achten streng darauf, dass das auch gelingen kann: Je nach Körpergewicht wird der Tagesbedarf errechnet. 4200 Kilokalorien sind das bei Stengeles 68 Kilogramm.
Jeden Tag drei Mahlzeiten, mit Nachtisch. Diese zuzubereiten und zu verspeisen, wird ihm seine langen Tage auf hoher See unterteilen. Dazwischen hat er genug zu tun: vorwiegend Rudern. Das hat er gut trainiert, 600 Trainingsstunden hat er absolviert, vor allem auf dem Bodensee an den Wochenenden.
Stengele lebt in Stuttgart, arbeitet als freiberuflicher Sportlehrer. „Am Anfang war ich wie ein Fahranfänger, inzwischen bin ich eher mit Sonnenbrille und zurückgelehnt unterwegs“, erzählt er. Aber ob er wirklich fit genug ist, kann er nicht sagen: „Es gibt kein Feedback, keine Wettkämpfe. Ich weiß nicht, wo ich stehe.“
Angstthema Haie
Fast mehr als das körperliche Training hielten ihn in den vergangenen Monaten die anderen Vorbereitungen auf Trab. Die mühsame Sponsorensuche, das Pflegen seines Instagram-Kanals, das Erfüllen der technischen Voraussetzungen für die große Überfahrt nahmen viel Zeit in Anspruch.
Zuletzt brachte der 54-Jährige sein Boot nach England, von wo aus es nach La Gomera verschifft wurde. Nächtelang habe er damit verbracht, für den Zoll jeden Gegenstand (Bezeichnung, Hersteller, Gewicht) einzeln aufzulisten. „Und dann hat sich kein Schwein fürs Boot interessiert“, erzählt er und lacht.
Das Boot muss von Muscheln freigekratzt werden
Mit die größte Herausforderung auf dieser Strecke dürfte die psychische werden. Gut drei Monate verbringen die Ein-Mann-Ruderer wie Stengele allein in ihrem Boot, umgeben nur von Meer, den Widrigkeiten des Wetters, „unter Dir 4000 Meter nichts“, sagt er und denkt dabei an sein größtes Angstthema: Haie.

Er habe einige interessante Dokumentationen gesehen, in denen einem ganz sachlich erklärt werde, dass man keine Angst haben müsse. Trotzdem findet er die Vorstellung, einmal in der Woche sein Boot auf hoher See von Muscheln freikratzen zu müssen, nicht gerade angenehm. Ohne Freikratzen aber wird es nicht gehen, wenn er mit dem Boot Strecke machen will. Zuletzt hat er sich einmal pro Woche mit einem Mental Coach getroffen, um auch den Geist fit zu machen.

Eine finanzielle Belastung, aber auch eine psychische Herausforderung
Die finanzielle Belastung, die das Abenteuer für den selbstständigen Sportlehrer bedeutet, dürfte er angesichts der täglichen Herausforderungen auf See bald vergessen haben: 22.500 Euro Startgeld, ohne Anreise, nur dass man mitmachen darf, dazu Flug, 15.000 Pfund für den Transport des Boots, das Boot selbst, das auch gebraucht noch 60.000 Euro kostet, 5000 Euro für das technische Equipment, die berufliche Auszeit will auch finanziert sein. Die zahlreichen Kleinspenden machen das nicht wett, doch Stengele ist optimistisch: „Ich habe Vertrauen, dass alles gut endet.“
Warum nur tut er sich das an? Es sei ein Kindheitstraum, Kapitän zu spielen, erklärt er – und dann ist da die sportliche Herausforderung. Er würde die Strecke gern in 60 Tagen schaffen, am liebsten als erster Soloruderer. Dann müsste er 60 Seemeilen pro Tag bewältigen, also 111 Kilometer. „Aber ob mich das unterwegs bei der Stange hält?“, fragt sich Stengele bei unserem Gespräch Ende Oktober. Wenn es hart auf hart kommt, glaubt er, werden ihm seine Aufgaben für die Forschung Auftrieb geben. „Es erfüllt mich, einen Beitrag zu leisten.“

Das Forschungsziel treibt ihn an
Zwei Forschungsprojekte geben seinem Projekt einen tieferen Sinn: Eine Sonde misst den Salzgehalt und die Temperatur des Wassers an der Oberfläche, eine weitere will er zweimal am Tag auf zehn Meter runterlassen. „Es gibt keine andere Plattform, die das Höhenprofil unverfälschter messen kann.“
Für das Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) an der Universität Oldenburg hat Stengele zudem eine Kamera installiert, die die Meeresoberfläche fotografiert. „Dabei entsteht die größte Bilddatenbank vom Nordatlantik“, erzählt er. Wenn der sportliche Ehrgeiz nachlässt, weiß er, was ihn zum Durchhalten motivieren wird: „Ich will die Daten nach Hause bringen.“
Gelohnt habe sich seine Reise aber schon vor dem eigentlichen Start, meint er: „Die Reise hat eigentlich schon lange zuvor begonnen.“ All die Leute, die er habe kennenlernen dürfen, die Erfahrungen, die er gemacht habe. Fast vier Jahre Vorbereitungen sind vergangen, seitdem er mit 50 Jahren den Plan gefasst hatte. Stengele hat das Gefühl, schon vor der Challenge viel geschafft zu haben. „Vier Jahre die Motivation hochzuhalten, war nicht leicht. Wenn ich ins Bett gehe, wenn ich aufstehe: Alles dreht sich in meinem Kopf um die Atlantic Challenge.“
„Bei Angst oder Unwohlsein werden die nicht aktiv“
Ein Scheitern kann es da eigentlich gar nicht geben. „Allein, dass ich es schaffe, an die Startlinie zu kommen, ist schon ein ganz großer Gewinn.“ Auch einen Abbruch der Challenge würde er nicht als Scheitern empfinden, erzählt er im Oktober. „Es wäre im schlimmsten Fall ein Aufhören.“
Natürlich macht man sich vor einer solchen Reise Gedanken, was alles passieren könnte, das einen zum Aufgeben zwingen würde. Stengele denkt vor allem an kaputte Technik, die er nicht mehr in Gang bringt. Oder dass er gesundheitlich so angeschlagen wäre, dass Rudern nicht mehr möglich wäre. Die Veranstalter holen die Teilnehmer aber nur im Notfall ab. „Bei Angst oder Unwohlsein werden die nicht aktiv“, sagt Stengele.
Inzwischen ist er schon 13 Tage auf See. Die Challenge startete in diesem Jahr nicht am 12., sondern schon am 11. Dezember. Die Boote sollten möglichst weit nach Süden gelangen, um dem herannahenden Starkwind auszuweichen. „Viele haben das gut geschafft, aber ein paar Boote, vor allem mit kleinerer Besetzung, kamen nicht weit genug, darunter auch Martin. Am Wochenende steckte er in einem lokalen Strömungsstrudel fest“, berichtet Alina, die gemeinsam mit ihrer Freundin Judith Martin Stengeles Instagram-Kanal befüllt, während er unterwegs ist.
Turbulenter Start für den Einzelruderer
Alina verfolgt das Ruderrennen schon seit ein paar Jahren und lernte Martin Stengele und sein Boot auf dem Yachtfestival in Wedel kennen. Verfolgen lässt sich sein Kurs auch über die App YB Races, auf der laufend die Positionen der Ruderer festgehalten werden.
Die Linie, die den Weg von Martin Stengeles Boot nachzeichnet, gleicht einer verhedderten Schnur. Ein paar Schleifen hat er gedreht. Den Grund weiß Alina: Der Strömungsstrudel mit einem Durchmesser von 60 Kilometern hielt ihn fest. „Aufgrund des starken Windes konnte er nicht aus diesem herausrudern, sondern musste den Para-Anker setzen“, schreibt sie.
Der Para-Anker ist eine Art Fallschirm unter Wasser, der Solo-Ruderer auf Kurs halten soll, die anders als die Teams Pausen einlegen müssen, um zu schlafen. Er bremst und stabilisiert das Boot und zieht es zugleich in Strömungsrichtung. Martin Stengele habe einige Probleme mit dem Anker gehabt, berichtet Alina. „Zu allem Überfluss ist ihm am Wochenende auch noch ein Ruder gebrochen. Er hat Ersatzruder dabei, aber das hat ihn natürlich ebenfalls aufgehalten.“
Aber er gehe ihm gut, versichert sie. Trotz der Umstände sei er weiter gut dabei und inzwischen stimmt auch die Richtung, in die er rudert. „Selbstverständlich wird er es schaffen, davon sind wir überzeugt“, schreibt sie.
Sein ganz persönliches Geschenk
Wie Martin Stengele wohl diesen Heiligabend verbringen wird? Vermutlich mit viel Rudern. Definitiv anders als normalerweise – das wäre gemeinsam mit Eltern und der Schwester. Der 54-Jährige hofft, dass er wenigstens nach Hause telefonieren kann an diesem Tag. Ein Satellitentelefon hat er dabei. „Das wird bestimmt emotional“, sagt er im Oktober. Silvester fern der Heimat sei zu verkraften, aber Weihnachten alleine zu sein, sei schon schlimm. Für die Familie daheim in Südbaden dürfte es auch nicht ganz einfach werden. Seine 93-jährige Mutter nehme es aber relativ gelassen, erzählt Stengele.
Ein Weihnachtsgeschenk wird er sich auf dem Atlantik machen. Er habe Freunde gebeten, dass sie ihm einen Brief schreiben. „Ein paar Zeilen, ein wenig Zuspruch.“ Die will er unterwegs aufmachen, wenn ihm die Gesellschaft zu sehr fehlt. Auch seine Mutter hat ihm einen geschrieben. „Den werde ich an Weihnachten aufmachen, da muss ich mir dann ein paar Taschentücher bereitlegen“, meint Stengele im Oktober und lächelt.