So sensationsschlüpfrig die Details in der ganzen Affäre um den Inspekteur auch sind: Vor dem Stuttgarter Landgericht geht es nicht um Sex, das Versenden von unappetitlichen Fotos und die sicher berechtigte Frage, wie jemand mit einem solchen Vorleben in das höchste Polizeiamt des Landes gelangen kann. Worum es geht: Um Macht und Machtstrukturen und die Frage, ob ein Missbrauch dieser Macht in Form einer sexuellen Nötigung vorliegt. Dann wäre es eine Straftat. Verhandelt wird ein geradezu klassischer MeToo-Fall – mit allen Facetten und Grauzonen, die die Bewertung einer Missbrauchssituation oft so schwierig machen.
Dem Mann wird vorgeworfen, eine im Auswahlverfahren für den höheren Polizeidienst befindliche jüngere Beamtin zur Duldung und Vornehmen sexueller Handlungen veranlasst und dabei bewusst ausgenutzt haben, dass er in der Lage war, der Frau erhebliche berufliche Nachteile zu bereiten. Der Paragraf 177 im Strafgesetzbuch bestraft den Straftatbestand der sexuellen Nötigung mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Auch der Versuch ist strafbar.
Die Machtverhältnisse sind eindeutig
An den realen beruflichen Machtverhältnissen gibt es in diesem Fall nichts zu diskutieren. Der Mann war der oberste Polizist des Landes und hatte in der Auswahlkommission, die über die Karriere der Frau entscheidet, ein gewichtiges, wenn nicht das entscheidende Wort. Sie war eine weit rangniedrigere Beamtin. Sind das Ausgangsbedingungen für eine Liebelei auf Augenhöhe? Hat eine Zurückweisung des Anderen für beide Seiten die gleichen Konsequenzen? Wohl kaum.
Nun beißt sich die Verteidigung des Angeklagten mit aller Macht an dem Punkt fest, der jenseits des Strafgesetzbuches und auch Jahre nach MeToo noch in den Hinterköpfen festsitzt: Die Frau hat ja mitgemacht. Und vielleicht nicht nur das – hat sie die Handlungen, um die es geht, nicht sogar herausgefordert, gar selbst betrieben? Man sieht schließlich auf den Überwachungsvideos, die in der Kneipe an dem besagten Abend aufgenommen wurden, dass sich beide anfassen, sich küssen, umarmen. Warum ist sie denn nicht einfach gegangen?
Sie hat ja mitgemacht...
„Victim Blaming“, das Opfer verantwortlich machen, heißt diese Art der Fragestellung, die in Jahrzehnten klarer Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen gesellschaftlich zementiert wurde. Dabei wird stets zuerst der Blick auf die Opfer gelegt – die auch, das sei gesagt, durchaus auch Männer sein können – und Zweifel an deren Darstellung geäußert. Statt den Blick auf die Täter und die entscheidende Frage zu richten: Durften sie, was sie taten?
In vielen Fällen, auch in diesem, ist die Antwort ganz unabhängig von der Strafbarkeit wohl klar: Nein. Er durfte kraft seiner Machtposition sich und die Frau nicht in eine solche Situation bringen. Er war dafür in der Verantwortung. Punkt. Und es spielt einfach gar keine Rolle, wie sich die Frau dabei verhält. Ihre Glaubwürdigkeit darf nicht von ihrem Verhalten abhängen. Was zählt, ist sein Verhalten.
In vielen Köpfen noch nicht angekommen
Im Zuge der MeToo-Debatte ist hier zumindest einiges aufgebrochen. Dass ein Missbrauch, eine Nötigung nicht nur dann vorliegt, wenn Gewalt angewendet wird, sondern sogar dann, wenn das Opfer sich nicht nur nicht wehrt, sondern auch mitmacht, ist längst im Strafrecht angekommen. In vielen Köpfen aber noch nicht.
Ja, es gibt bei dem Aussage-gegen-Aussage-Prinzip auch das Problemfeld der Falschbeschuldigungen. Die Möglichkeit sollte aber nicht zu dem Reflex führen, diese grundsätzlich zu unterstellen. Auch hier hilft oft die Frage: Was hätte angesichts der hohen Hürden und möglichen Folgen ein Opfer davon, etwas anzuzeigen, was nicht stattgefunden hat?
Was der Fall Julian Reichelt zeigt
Wie tief Victim-Blaming-Muster noch immer sitzen, zeigte zuletzt der Fall von Ex-“Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Daran wurde deutlich, was Opfern noch immer droht: Ihnen wird nicht geglaubt, Rachsucht unterstellt, sie werden eingeschüchtert, als Schlampen oder als psychisch labil diffamiert, meist beides, sie werden an die Öffentlichkeit gezerrt. Wer das verfolgt hat, wird sich lange überlegen, einen möglichen Übergriff zu melden. Dem Prozess in Stuttgart kommt auch in dieser Hinsicht größte Bedeutung zu.