Herr Brinker, bei einer großen Bodensee-Bestandsaufnahme gab es ein erstaunliches Ergebnis: Der Stichling, der jahrelang dominierte, ist deutlich dezimiert. Wie sehr hat Sie das überrascht?
Das hat mich komplett unvorbereitet getroffen, das muss ich schon sagen. Im Frühjahr haben die Kollegen intensiv nach den Stichlingen geschaut. Bei Echolot-Fahrten waren kilometerweite Bänder von Stichlingen im See zu sehen. Auch während der Laichzeit haben wir die Stichlinge weiter beprobt, und auch da sah alles ganz normal aus.
Dass die Befischungs-Teams jetzt, ein paar Monate später, nur noch einen kleinen Bruchteil davon fangen, das ist wirklich sehr, sehr überraschend.
Wie aussagekräftig ist das, was Sie da festgestellt haben? Kann das ein Zufall sein?
Das ist nach meiner Einschätzung aussagekräftig, sonst würde ich nicht darüber reden. Ich weiß aber nicht, wie beständig dieser aktuelle Zustand ist. Stichlinge haben ein immenses Vermehrungspotenzial. Die Situation kann sich tatsächlich nächstes Jahr schon wieder komplett gedreht haben. Genauso wie die Stichlinge 2012 von einem Jahr auf das andere das Freiwasser komplett überrannt haben und auf einmal Millionen von Stichlingen im Freiwasser zu finden waren.
Das ist nächstes Jahr auch möglich, aber jetzt im Moment sind im Verhältnis zu früher sehr wenige Stichlinge im See. Das kann man schon relativ sicher sagen, weil wir auf dem gesamten See Hunderte von Netzen über vier Wochen ausgebracht haben und sie nirgendwo gefangen haben.

Sie vermuten, dass dahinter eine Pandemie stecken könnte. Wie oft passiert so etwas bei Fischen?
Das ist so generell nicht zu sagen. Stichlinge sind bekannt dafür, dass sie Massenbestände aufbauen und dass diese auch wieder zusammenbrechen können. Dieses Zusammenbrechen passiert dabei oft durch einen spezifischen Parasiten, einen Bandwurm (Schistocephalus solidus), der die Stichlinge befällt.
Diesen Bandwurm gibt es im Bodensee auch. Allerdings sterben die Fische dann im Winter – das passt also nicht. Der Bandwurm kommt eigentlich nicht als Erklärung für das infrage, was wir hier beobachten.
Es besteht immer auch die Möglichkeit, dass Fisch-pathogene Bakterien oder Viren den Bestand infizieren, insbesondere wenn es um Massenbestände geht. Irgendetwas muss jedenfalls passiert sein.
Menschliches Handeln kann nicht die Ursache sein? Dass jemand Gift in den See gekippt hat …
Ich habe keinerlei Hinweise in diese Richtung. Es gab keine Meldungen zu großen Stichlingssterben im See oder etwas in der Art. Und man müsste sich schon sehr anstrengen. Wir haben ja viele Jahre überlegt, wie wir den Stichlingen Herr werden können.
Dieses Jahr im Spätherbst werden die bayerischen Kollegen Schleppnetzfischerei erproben, um die Stichlinge fischereilich einzudämmen. Das hat aber noch gar nicht stattgefunden. Der Ansatz sollte aber unbedingt weiter verfolgt werden, da die Stichlinge durchaus in alter Stärke zurückkommen könnten und dann Antworten benötigt werden.
Die schlechte Nachricht für den Stichling ist eine gute für das Felchen, weil die beiden Nahrungskonkurrenten sind und die Stichlinge auch die Felchen fressen. Können die Bodenseefischer eigentlich schon aufatmen?
Nein, aber es gibt jetzt eine wirklich realistische Chance, dass sich etwas ändert im See. Vielleicht sehen wir sogar bereits die ersten Effekte. Denn zumindest Teile der Felchen, die jetzt in den Netzen waren, sind ganz gut gewachsen, haben einen guten Gesundheitszustand gezeigt.

Ganz anders als in den zurückliegenden Jahren mit sehr vielen Stichlingen. Da waren richtige Hungerhaken bei den Felchen in den Fängen der Fischer, die sich teilweise gar nicht mehr vermarkten ließen.
Es bleibt aber abzuwarten, was die Stichlinge tun. Ob sie sich jetzt einmal schütteln und im nächsten Jahr wieder eine Massenpopulation ausbilden? Das Rekrutierungspotenzial dazu haben sie. Sie können wirklich sehr schnell wieder Massenaufkommen bilden. Das müssen wir jetzt einfach beobachten.
Sie helfen bei den Felchenbeständen auch nach. Wie funktioniert das?
Diese Arbeit erfolgt durch die Brutanstalten rund um den See. Bei den Felchen wird zunächst eine sogenannte Laichfischerei durch die Berufsfischer durchgeführt. Zu der Zeit, wenn die Felchen laichreif werden, wird ein kleiner Teil von den Elterntieren gefangen. Davon wird der Laich gewonnen und in sieben Brutanstalten rund um den See aufgezogen.
Anders als in den vergangenen Jahren möchte man diese kleinen Felchen auf eine Größe von 3,5 bis 4 Zentimeter aufziehen und nicht direkt als sogenannte Dottersackbrut besetzen. Denn in dieser Größe können sie nicht mehr von den Stichlingen gefressen werden und sie verhungern nicht sofort, wenn sie mal eine schlechte Zeit haben und auf wenig Futter treffen. Durch diese Besatzfische möchte man den Felchenbestand im See stützen.
Im November, Dezember werden die Eier gewonnen und befruchtet. Dann werden sie in die Brutanstalten eingebracht und im Frühjahr werden sie dort zum Schlupf gebracht und dann angefüttert. Bis April, Mai sind sie dann groß genug, um ausgesetzt zu werden.
Mit der Kartierung des Bodensees finden Sie noch mehr über die Fischbestände heraus. Wie passiert das genau?
Diese seeweite Befischung, bei der man den See flächendeckend beprobt, wird jetzt zum dritten Mal durchgeführt. Dies geschieht im Auftrag der Internationalen Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei (IBKF) und der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB). Das soll alle fünf Jahre stattfinden.

Dabei werden sehr viele Netze randomisiert – also per Zufallsverfahren – über den gesamten See ausgebracht, in allen Wassertiefen, mit ganz unterschiedlichen Maschenweiten, sodass Fische aller Größen gefangen werden können. Die Uferbereiche werden zudem elektrisch abgefischt. Das wurde in den vergangenen vier Wochen gemacht.
Basierend auf den gewonnenen Fängen kann dann in Bezug auf den fischereilichen Aufwand mathematisch abgeschätzt werden: Wie verteilen sich die Fischarten im See, wie viele gibt es im Vergleich und so weiter. Außerdem werden so viele Proben gewonnen, die weiter untersucht werden können, beispielsweise um das Wachstum oder die Futterwahl zu bestimmen.
Gibt es weitere Überraschungen bei der Untersuchung, abgesehen von den Stichlingen?
Ich glaube schon, dass einiges in den Daten drin steckt, aber das müssen wir erst komplett auswerten. Nur bei den Stichlingen würde ich eine grundlegende Aussage treffen, weil der Effekt einfach so gravierend groß ist.