Was würde Jesus heute sagen? Unter diesen provokanten Titel stellte Heiner Geißler ein Buch, das vor 20 Jahren für Furore sorgte. Ja, was würde der Mann, der laut christlicher Überlieferung die Nächstenliebe predigte, wohl sagen, wenn er im Missbrauchsbericht der Erzdiözese Freiburg blättern würde?
In einer Studie, die auf 600 bedrückenden Seiten schildert, wie katholische Priester ihre Macht- und Vertrauensstellung ausnutzten und sich an Kindern vergingen, geschützt durch eine Bistumsleitung, die sich vor die Täter stellte statt vor die Opfer?
Hätte er seinen Gürtel genommen und diese falschen Hirten samt ihres Aufsehers aus der Kirche gejagt, so wie die Geldwechsler aus dem Tempel in Jerusalem? Niemand sollte sich anmaßen, die Antwort auf die Geißler-Frage zu kennen. Es ist aber niemandem zu verdenken, wenn ihn der heilige Zorn packt angesichts des Abgrunds, der sich da auftut.
Der frühere Freiburger Oberhirte Robert Zollitsch hat den Kinderschändern im Talar weder die Tür gewiesen noch hat er ihre Verbrechen in irgendeiner anderen Weise gestoppt. Wie die Studie offenlegt, nahm der Erzbischof die Täter in Schutz und sorgte dafür, dass sie unbehelligt weitermachen konnten. Oftmals wurden Missbrauchspriester stillschweigend in eine andere Pfarrei versetzt, wo sie sich neue Opfer suchen konnten.
Kindesmissbrauch möglich gemacht
Fragte die Staatsanwaltschaft nach, verschwanden belastende Akten, so sie überhaupt angelegt wurden, im Reißwolf. Dem Chef der Erzdiözese war das Ansehen der Institution Kirche wichtiger als das Schicksal von Kindern, die ihren Peinigern ausgeliefert blieben. Die Täter konnten sich in Sicherheit wiegen. Hinter ihnen stand ein System, das sie faktisch ermutigte und Kindesmissbrauch in diesem Ausmaß überhaupt erst möglich machte.
Es spricht für die neue Bistumsspitze in Freiburg, dass sie mit dieser Vergangenheit bricht und keine falschen Rücksichten mehr nimmt. Selbst die Bischofswürde schützt nicht mehr davor, zur Verantwortung gezogen zu werden. Trotzdem muss sich die Kirche hüten, alle Schuld bei Robert Zollitsch abzuladen. So wie in Freiburg ging und geht es in vielen – wenn auch nicht in allen – Diözesen zu, in Deutschland und in der gesamten Weltkirche.
Das System des Vertuschens und Vereitelns funktioniert, solange viele mitmachen und ein Auge zudrücken, wo genaues Hinsehen erforderlich wäre. Hier rächt sich das bundesdeutsche Rechtsverständnis, die Kirchen jede Angelegenheit selbst regeln zu lassen, so als sei ein Missbrauchsverdacht ein Fall fürs Ordinariat und nicht für den Staatsanwalt. Auf die Selbstreinigungskräfte der Kirche zu hoffen, reicht nicht aus: Der Freiburger Missbrauchsbericht belegt es schwarz auf weiß.
Im Kampf gegen Kindesmissbrauch durch Geistliche bleibt das Kirchenrecht deshalb ein Papiertiger, solange es den Tätern und ihren Beschützern in den Ordinariaten das Gefühl gibt, sie lebten in einem Staat im Staate. Das traurige Beispiel aus Südbaden zeigt die Folgen: Zollitsch verstieß nicht nur gegen die staatliche Anzeigepflicht, sondern auch gegen die Richtlinien seiner eigenen Institution.
Er hatte etwas zu verbergen
Andere Bischöfe meldeten Missbrauchsfälle vorschriftsmäßig nach Rom. Aus Freiburg kam nichts. Selbst eine Anfrage der Deutschen Bischofskonferenz zum Stand der Aufklärung in seiner Diözese ließ der Erzbischof unbeantwortet, obwohl er in dieser Zeit den Vorsitz innehatte. Heute weiß man warum: Der Amtsbruder im Breisgau hatte etwas zu verbergen. So blieb in Dunkeln, was ans Licht gehört und schon lange zum Himmel schreit.
Somit wird es wohl auch in den Pfarreien im Südwesten der Republik kommen wie in Köln und München, wo ähnliche Gutachten ähnliche Ergebnissen brachten. Die Kirchenmitglieder antworten nicht mit einem Aufschrei, sondern mit Austritt. Das ist verständlich. Gut ist diese Entwicklung nicht.
In Deutschland zählen die Kirchen zu den wichtigsten Stützen des Gemeinwesens. Vor allem aber für die Menschen selbst leisten sie, wozu keine staatliche Stelle imstande ist. Gerade in Zeiten der Verunsicherung geben sie vielen Gläubigen Halt und Hoffnung. Kirche heißt nicht nur Klerikermacht, sondern auch Beistand für Alte und Sterbende, schöne Worte bei der Hochzeit und tröstende bei der Beerdigung, Kirchenchor und Orgelspiel am Sonntag. Gemeinden, in denen dies künftig fehlt, sind nicht unbedingt menschlicher.
Freiburgs heutiger Erzbischof Stephan Burger liegt mit seinem Kurs brutalstmöglicher Aufklärung deshalb richtig. Er ist es den Opfern schuldig und den Gläubigen nicht minder. Allen Verfehlungen, Pflichtverletzungen und Versäumnissen zum Trotz kann die Kirche eine Zukunft haben – sofern sie für die Menschen da ist und nicht für den Klerus.