Es war ein Sonntagabend, als Ali M. ins Schlafzimmer zu seiner Frau Anastasia kam – und sie vergewaltigte. Er hatte getrunken. Er zwang sie zuerst, ihn oral zu befriedigen, dann drang er in sie ein. „Toll machst du das, Respekt!“, sagte er und lachte, ehe er ejakulierte. Sie habe ihn ja provoziert, sagte er später. Was Ali M. (alle Namen geändert) nicht wusste: Die Apple Watch seiner Ehefrau zeichnete alles auf. Es war der 20. März 2022. Sieben Monate blieb sie noch bei ihm.

Dieser Fall hat viele Schauplätze: Chemnitz in Sachsen, Singen am Bodensee und Heide in Schleswig-Holstein. Er handelt von einer Frau, die 2016 aus Aserbaidschan nach Deutschland kam. Und die vielleicht noch leben könnte, hätte sie ein kleines Gerät bei sich getragen.

Sie kam aus Angst nach Deutschland

Anastasia kam nicht aus Hoffnung nach Deutschland, sondern aus Angst und wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihrem Mann. Schon während der Schwangerschaft schlug er sie. Sie blieb. Aus Furcht, er würde ihr den gemeinsamen Sohn wegnehmen. Ali M. drohte ihr immer wieder, sie zurück nach Aserbaidschan zu schicken, ihr Bleiberecht war an ihn gekoppelt. Über Jahre quälte er Anastasia und ihren Sohn mit psychischer und körperlicher Gewalt, erniedrigte sie, bedrohte sie mit dem Tod. Am 13. September 2022 hatte sie genug.

Schock in Heide: Auf offener Straße wurde eine Frau von ihrem Mann aufgespürt – und erschossen.
Schock in Heide: Auf offener Straße wurde eine Frau von ihrem Mann aufgespürt – und erschossen. | Bild: Florian Sprenger/Westküsten-News

Sie floh – einmal, zweimal, dreimal. Doch ihr Ehemann fand sie immer wieder. Bis er sie tötete. Ihr Sohn stand neben ihr auf einem Gehsteig, als er ihr Ali M. am 31. Oktober 2022 auf offener Straße in den Kopf schoss.

Fast täglich eine Tote

Es vergeht keine Woche in Deutschland, in der keine Frau von einem Mann umgebracht wird. Es vergeht kein Tag, in dem keine Frau daheim von ihrem Partner verprügelt wird. Die Zahlen sind alarmierend. Wenn Männer Frauen wegen ihres Geschlechts töten, nennt man das Femizid.

Im November vergangenen Jahres präsentierte das Bundeskriminalamt erstmals ein Lagebild zu „geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen“. Laut Bericht wurden 2023 insgesamt 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Femiziden – 360 von ihnen überlebten nicht. Das ist also fast täglich eine Tote.

Anastasia ist kein Einzelfall. Immer wieder erschüttern die Taten auch die Region – ob bei Messerstichen in Bonndorf oder Schüssen im Schnäppchenmarkt in Markdorf.

Vorbild: Spanien

Wie hört das auf? Wer sich mit Polizisten und Politikern darüber unterhält, stößt schnell auf ein Modell, das als Referenz gilt: Spanien. Seit Jahren werden dort gewalttätigen Männern elektronische Fußfesseln angelegt, damit Frauen gewarnt werden, wenn er sich nähert.

So sieht ein DV-Tracker aus, mit dem sich ein Opfer von häuslicher Gewalt schützen können.
So sieht ein DV-Tracker aus, mit dem sich ein Opfer von häuslicher Gewalt schützen können. | Bild: Arne Dedert, dpa

Im spanischen Modell gibt es keine festen Verbotszonen wie den Wohnort oder Arbeitsplatz. Stattdessen überwacht das System den Abstand zwischen Täter und Opfer. Das Opfer trägt ein GPS-Gerät, der Täter eine Fußfessel. Nähert sich der Täter – ob absichtlich oder nicht – dem Opfer, löst das System Alarm bei der Polizei aus.

Gleichzeitig erhält das Opfer eine Warnung. Seit 2009 wird diese Technik eingesetzt; in knapp 13.000 Fällen, bei denen die Fußfessel im Einsatz war, kam es zu keinem einzigen Femizid.

Große Einigkeit

Auch in Deutschland wächst der Druck. Schon lange. Die Ampel-Regierung wollte es noch im Januar einführen – und scheiterte. Auch die neue Bundesregierung hat es sich in den Koalitionsvertrag geschrieben, die Innenminister haben sich vor Kurzem auf die Einführung der Fußfessel verständigt.

Die SPD in Baden-Württemberg hat bereits Anfang des Jahres im Februar einen Gesetzesvorschlag in den Landtag eingebracht. Dazu will man das Polizeigesetz anpassen. Und nicht mal die AfD torpediert das Vorhaben. Zu erdrückend sind die Fallzahlen. Aber so einfach ist es scheinbar nicht.

Denn für den flächendeckenden Einsatz der elektronischen Fußfessel bei häuslicher Gewalt sind zwei Ebenen rechtlicher Regelungen nötig: Ein Bundesgesetz, das den rechtlichen Rahmen etwa im Gewaltschutzgesetz schafft, und ein Landesgesetz, das den Einsatz im jeweiligen Polizeigesetz ermöglicht. Ohne beide Regelwerke bleibt das Instrument wirkungslos und rechtlich unsicher.

Polizeigewerkschaften: Längst überfällig

Zuletzt hörte der Innenausschuss mehrere Experten an. Guntram Lottmann, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, sprach sich für die elektronische Aufenthaltsüberwachung (EAÜ) aus. Sie könne Leben retten, sagte er in Stuttgart – wenn sie mit Frühwarnsystemen und ausreichendem Personal gekoppelt sei. Lottmann warnt aber auch vor einer Scheinlösung: Ohne klare Strukturen und Ressourcen bleibe die Fußfessel wirkungslos. Auch sein Kollege Jürgen Engel von der Deutschen Polizeigewerkschaft sprach von einem „längst überfälligen Schritt“.

Durch den Tracker am Fuß kann der Standort des Trägers überwacht werden.
Durch den Tracker am Fuß kann der Standort des Trägers überwacht werden. | Bild: Arne Dedert

Wer schon überwacht wird

In Deutschland werden elektronische Fußfesseln bisher vor allem bei verurteilten Straftätern mit hoher Rückfallwahrscheinlichkeit eingesetzt – in Baden-Württemberg sind es aktuell 16 Männer. Das sind Sexualstraftäter, Brand- und Gewaltstraftäter. Jede Maßnahme ist gerichtlich genehmigt, jedoch ist das System für Gewalt in Partnerschaften nicht ausgelegt.

Hessen übernimmt seit 2011 die technische Überwachung solcher Fälle – hier sitzt die „Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle der Länder“ (GÜL). Doch der präventive Einsatz bei häuslicher Gewalt erfolgt bislang nur als Amtshilfe, da ein verbindlicher Staatsvertrag fehlt. Die GÜL wird also nur tätig, wenn die jeweilige Polizeibehörde sie darum bittet – und das muss die Polizei wiederum rechtlich auch dürfen.

Evelyn Henning vom hessischen Justizministerium betonte im Landtag, dass klare Rechtsgrundlagen, eingespielte Abläufe und technische Ressourcen nötig sind, damit die Fußfessel im Schutz vor Gewalt verlässlich eingesetzt werden kann. Das neue „spanische Modell“ ermögliche eine flexiblere Überwachung, verlange aber deutlich mehr Personal und Technik – und bringe die bisherigen Kapazitäten an ihre Grenzen.

Wie er sie aufspürte

Anastasia wurde 37 Jahre alt. Sie arbeitete mit ihrem Mann in einem Steakhouse in Chemnitz. Am 13. September 2022 bereitete sie den Abenddienst vor, als Ali M. auftauchte. Er beleidigte sie mehrfach, drohte, ihr das Bankkonto zu sperren, kritisierte ihre engen Jeans – das, sagte er, erlaube er ihr nicht.

Zuhause am Abend schlug er sie mit der Hand, mit der Faust, trat sie, zog sie an den Haaren. Er sagte, sie sei ein Nichts. Und dass sie ohne ihn nichts wert sei. Während er glaubte, die Kontrolle zu haben, schmiedete sie einen Plan.

Am nächsten Tag war es so weit. Sie floh mit ihrem Sohn. Erst zu einer Freundin, dann ins Frauenhaus in Chemnitz. Aber sie war nicht sicher. Ali M. verfolgte sie digital, weil er Zugriff auf die alte SIM-Karte, die auf seine Firma angemeldet war, hatte. Er las ihre WhatsApp-Nachrichten mit, verfolgte, wo sie war, mit wem sie schrieb.

Die Entdeckung

Am 5. Oktober 2022 steht Ali M. plötzlich mitten in der Singener Innenstadt vor ihr, als sie gerade auf dem Weg vom Einkauszentrum ins Frauenhaus ist. Er hält ihr einen Blumenstrauß vors Gesicht, und bittet sie, nach Hause zu kommen. Immer wieder.

Anastasia sagt, sie wolle ihre Ruhe haben. Sie wolle die Scheidung. Ali M. sagt, falls es einen anderen gebe, werde er ihn töten. Er werde sie niemand anderem „überlassen“. Anastasia wird laut, er solle sie endlich in Ruhe lassen. Ali M. schmeißt den Blumenstrauß weg und geht. Vorerst.

Ali M. (Name geändert) wurde vom Landgericht Itzehoe 500 Tage nach der Tat wegen Mordes verurteilt.
Ali M. (Name geändert) wurde vom Landgericht Itzehoe 500 Tage nach der Tat wegen Mordes verurteilt. | Bild: Marcus Brandt, dpa

Vier Tage später taucht Ali M. vor dem Frauenhaus in Singen auf. Er hatte eigentlich per Sprachnachricht angekündigt, sie in Ruhe zu lassen und nach Chemnitz zurückzukehren. Anastasia erkennt ihn durchs Fenster und ruft die Polizei. Er entfernt sich, und kommt wieder. Er fährt mit einem Klapprad am Haus vorbei und ruft durch das offene Fenster: „Ich liebe dich!“

Am 10. Oktober fahren Anastasia und ihr Sohn fast 1000 Kilometer in den hohen Norden. Alle technischen Geräte lassen sie in Singen. Dennoch macht sie einen Fehler. Sie teilt in einer WhatsApp-Gruppe ihren Freundinnen ihren neuen Standort mit. Sie weiß noch immer nicht, dass ihr Mann mitliest. Sie hatten fast alle elektronischen Geräte am Bodensee gelassen. Doch jetzt weiß er wieder, wo sie ist. Später googelt er zu „Tötung der Ehefrau“ und wo ein Schuss für den sicheren Tod treffen muss.

Der Schuss

31. Oktober 2022: Anastasia fährt mit ihrem Sohn nach Sylt. Ein kurzer Ausflug, etwas Ablenkung von der Flucht, etwas Normalität. Mit dem Zug fahren sie wieder zurück nach Heide, gehen bei Dominos eine Pizza essen und zurück zu ihrer Unterkunft. Ali M. hatte sie da schon im Visier. Tagelang lag er in Heide auf der Lauer, beobachtete sie. Er ließ sich von einem Bekannten in einem fremden Auto hochfahren. Seine Tasche hatte er schon gepackt.

Dann trat er an sie heran, bewaffnet mit einer präparierten Schreckschusspistole, aus der man echte Projektile abfeuern kann. Um 16:48 Uhr schießt er ihr aus nächster Nähe in den geöffneten Mund. Sie stirbt sofort. Der Sohn sieht alles. Die Waffe, das Blut, das Gesicht seiner Mutter. Ali M. geht zurück zum Wagen, steigt ein und lässt sich von dem Bekannten zur Polizeiwache fahren. Dort, sagt er, er habe seine Frau „geschießt“.

Femizid an der Ostsee am 31.10.22: Mit einer Mahnwache gedenken Trauernde wenige Tage nach dem Mord der umgebrachten Frau.
Femizid an der Ostsee am 31.10.22: Mit einer Mahnwache gedenken Trauernde wenige Tage nach dem Mord der umgebrachten Frau. | Bild: Seehausen

Genau 500 Tage später wird Ali M. verurteilt – lebenslange Freiheitsstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Er wird wegen Vergewaltigung und Mord verurteilt. 500 Tage nach ihrem Tod.

800 Tage nach ihrem Tod teilt die sächsische Justizministerin mit, dass in dem Bundesland, in dem Anastasia lebte, einem Mann erstmals eine elektronische Fußfessel wegen häuslicher Gewalt angelegt wurde. Es sei ein guter Tag für den Schutz von Frauen.