Niemand sieht sie, aber sie ist da. Es gehe ihr sehr schlecht mit dem Prozess, sie habe sich verändert, sei zurückgezogen, sagt später ihre Schwester aus. Sie selbst sitzt hinter einer großen weißen Sichtschutzwand im Gerichtssaal, abgeschirmt vor den Blicken der Öffentlichkeit.
Mehrmals hört sie an diesem Freitag in Zeugenaussagen vor dem Stuttgarter Landgericht erneut, was ihr eigenes Leben und das des bis November 2021 obersten Polizisten des Landes, Andreas R., komplett auf den Kopf stellte und einen bislang beispiellosen Skandal an der Spitze der baden-württembergischen Polizei sowie einen Untersuchungsausschuss des Landtags auslöste. Der suspendierte Inspekteur der Polizei ist der sexuellen Nötigung angeklagt und steht vor Gericht.
Demonstrativ Hand in Hand mit der Ehefrau
Sie, eine heute 34-jährige Polizeikommissarin, ist die Nebenklägerin. Und er, Andreas R., sitzt auf der Anklagebank direkt vor der weißen Sichtschutzwand, in ihrer unmittelbaren Nähe. Neben ihm, auch an diesem Freitag wieder, seine Frau. Auch sie Polizistin, Öffentlichkeitsprofi. Demonstrativ Hand in Hand betreten und verlassen die beiden stets das Gericht, hoch erhobenen Hauptes.
Die 34-jährige Nebenklägerin hört an diesem Freitag hinter der Wand die Aussagen ihrer eigenen Schwester, des Vertrauensbeamten bei der Polizei, des in dem Fall ermittelnden Beamten, und wieder und wieder die unterschiedlichen Schilderungen rund um das immer gleiche. Wie sie, eine zielstrebige Polizistin im Auswahlverfahren für den höheren Dienst, von dem obersten Polizisten des Landes an einem Freitagnachmittag zum Gespräch über ihren nächsten Karriereschritt gebeten wurde, wie man im Innenministerium mit Kollegen viel Sekt trank, man später in eine Kneipe wechselte, sie dann allein mit dem Inspekteur noch in zweite Kneipe zog.
Schwester schildert die Pein der Nebenklägerin
Sie hört erneut, wie es dann zu Zärtlichkeiten in der Kneipe kam, sie schon stark alkoholisiert war, ihn nicht zurückwies, sondern die Küsse erwiderte, er ihr Komplimente machte. Ihr dann von seinen sexuellen Vorlieben erzählte, es ihr zunehmend unangenehm geworden sein soll, als er ihr erzählte, dass er gerne attraktiven Frauen beim Urinieren zusehe. „Ich glaube, der wollte mir in die Kiste, aber das wollte ich auf keinen Fall“, erzählt sie später ihrer Schwester.
Sie habe sich nicht lösen können, es sei gewesen, als hätten ihre Füße Wurzeln in den Boden getrieben. Obwohl sie eklig und abartig fand, was er ihr sagte. Dass sie nicht auf die Toilette gegangen sei, weil sie Sorge hatte, er könne ihr zusehen wollen. „Sie hat mehrfach gesagt, du verstehst das nicht, das ist der IdP, ich kann da nicht einfach Nein sagen“, berichtet die Schwester vor Gericht. „Aber ich habe nie bezweifelt, dass sie es auf keinen Fall wollte, was da geschah.“
Vertrauensbeamter findet ihre Aussage glaubwürdig
Und wie es dann zu der Situation kam, dass sie ein paar Minuten draußen waren, er urinierte und dabei ihre Hand nahm und an seinen Penis führte. Und sie völlig mit der Situation überfordert war, sich ihr aber nicht entziehen konnte und Angst hatte, sich zu widersetzen. Und wie sie, so berichtet der Vertrauensbeamte der Polizei vor Gericht von ihren Aussagen, sich nicht wehrte, er war ja schließlich der IdP, aber sie sich fragte: Was mache ich hier? Wie komme ich aus der Situation raus? Ich stehe da und habe den Penis des Inspekteurs in der Hand?
„Ich bin dann die Schlampe“
Und wie sie sich schämte am nächsten Tag, so sehr, dass sie die Details zunächst niemandem erzählen wollte, und wie sie dann ihre Schwester und ihren damaligen Freund einweihte: Wer wird mir denn glauben? Es ist doch er IdP. „Sie hat Angst gehabt, es zu melden. Sie hat gesagt: Mir glaubt man eh nicht, ich bin dann die Schlampe, die sich eingelassen hat, es steht Aussage gegen Aussage“, berichtet der Vertrauenspolizist, dem sie sich dann doch anvertraute und der nach Bewertung der Lage zum Schluss kam, dass straf- und disziplinarrechtliche Vorwürfe im Raum stünden. „Ich fand sie glaubwürdig. Sie dachte, es sei nicht zum ersten Mal gewesen, dass er so etwas gemacht hat. Ich habe dann gesagt, dann müssen wir es erst recht melden, um möglicherweise zu verhindern, dass andere das auch mitmachen müssen“, sagt der Vertrauenspolizist am Freitag vor Gericht.
Auch der direkte Vorgesetzte im Innenministerium, Björn R. sagt am Nachmittag aus, dass nach einem langen Gespräch mit der 34-Jährigen und dem Anhören eines heimlichen Gesprächsmitschnitts wenige Tage später seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Beamtin und des Geschehens völlig ausgeräumt waren. „Ich hatte ein ganz anderes Bild von Andreas R., habe ihn als sympathisch und einen Familienmenschen, als hervorragenden Polizisten kennengelernt“, sagt Björn R. „Die Vorfälle haben mich schockiert. Sie haben das Bild komplett zerstört.“
Nächster Zeuge hatte eine Beziehung mit ihr
Der Prozess wird am Dienstag fortgesetzt. Als einziger Zeuge ist ein Polizeibeamter – damals ebenfalls im Innenministerium beschäftigt – geladen, mit dem die 34-Jährige vor und nach dem Vorfall mit Andreas R. in einer On-Off-Liebesbeziehung stand. Der verheiratete Beamte war Vertrauter und Ratgeber der Beamtin beim Umgang mit den Vorfällen mit Andreas R. und auch der erste, der davon erfuhr. Der Zeuge hat den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt.