Ein kleines Holzboot, aus der Luft kaum größer als ein Stecknadelkopf, treibt zwischen Wellen auf dem offenen Meer. Platz ist in dem Boot keiner mehr, dicht gedrängt sitzen die Menschen dort ohne Schwimmwesten und harren aus. Hoffen aufs Überleben. Ein Schiff ist bereits auf dem Weg, hält mit großer Geschwindigkeit auf das Boot zu. Die Rettung für die Geflüchteten? Dann fallen Schüsse.

Im Zebra-Kino in Konstanz ist es still – bedrückend still. Die Fassungslosigkeit der Zuschauer über diese Bilder kann man quasi spüren. Doch genau darum geht es in dem Kurzfilm „Seabird – Das zivile Auge“, den die Seebrücke Konstanz zusammen mit dem Café Mondial und Save me Konstanz zeigt: Hinschauen.

Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der EU

Die Schüsse verfehlen das Boot nur knapp und landen im Wasser. „Hör auf zu schießen“, fordert die Besatzung der zweimotorigen Propellermaschine Seabird im scharfen Ton auf Englisch über den Seefunk. Das Flugzeug kreist über dem Geschehen, macht Fotos und Videos von dem Bild, das sich ihr bietet. Doch um die Seabird kümmert sich niemand. Stattdessen fährt das Schiff am Holzboot immer wieder so dicht vorbei, dass es zu kentern droht. Die Schiffsbesatzung wirft Stöcke auf die Menschen, statt ihnen zu helfen.

Es sind erschütternde Eindrücke, die die Filmemacher da festgehalten haben. Und doch sind es Eindrücke, die der Besatzung der Seabird zwischen Libyen und Lampedusa fast täglich begegnen. Denn auf dem Mittelmeer kämpfen Menschen an der tödlichsten Grenze der EU um ihr Überleben.

Die sogenannte libysche Küstenwache versucht immer wieder, Boote mit Flüchtlingen zurückzuholen und auf dem offenen Meer mit waghalsigen ...
Die sogenannte libysche Küstenwache versucht immer wieder, Boote mit Flüchtlingen zurückzuholen und auf dem offenen Meer mit waghalsigen Manövern einzuschüchtern. | Bild: Jens Scheibe

Jährlich versuchen noch immer tausende Menschen sich über diese Route zu retten. Trotz strenger EU-Asylpolitik an den Außengrenzen – die nach aktuellen Reformplänen noch strenger werden soll. Seit 2019 steigen Jahr für Jahr die Zahlen der Geflüchteten, die diesen Weg nutzen. 2019 gab es laut UNHCR rund 11.000 Ankünfte im Jahr gab, auf mehr als 54.000 Ankünfte alleine bis zum 11. Juni in diesem Jahr. Und jährlich steigen die Zahlen der Menschen, die dabei sterben. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren es alleine im ersten Quartal diesen Jahres 441 Menschen – so viele wie seit sechs Jahren nicht mehr.

Menschen in Seenot retten und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren

Dagegen kämpft unter anderem Omar El Manfalouty. Er ist für die Humanitarian Pilots Initiative (HPI) aus Zürich im Einsatz, die menschliches Leben schützen will.

Omar El Manfalouty (30) ist Pilot bei der NGO Humanitarian Pilots Initiative aus Zürich, die sich für die zivile Seenotrettung im ...
Omar El Manfalouty (30) ist Pilot bei der NGO Humanitarian Pilots Initiative aus Zürich, die sich für die zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer einsetzt. Er war zu einer Filmvorführung in Konstanz. | Bild: Jennifer Seidel

El Manfalouty ist 30 Jahre alt, südlich von Frankfurt aufgewachsen, arbeitet am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Uni Zürich. Vor sechs Jahren hat er seine Privatpilotenlizenz absolviert, seit fünf engagiert er sich bei HPI, hält im zentralen Mittelmeer nach Booten in Seenot Ausschau. Er dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, wo es sonst niemand tut und stellt die Einhaltung nationaler und internationaler rechtlicher Pflichten sicher.

Seinen ersten Einsatz flog er am 14. Mai 2018, daran kann er sich noch genau erinnern: „Ich war unglaublich aufgeregt. Ich hatte das Gefühl, dass das Fliegen jetzt einen Sinn hat.“ Ursprünglich brachte ihn der Spaß an der Sache zur Fliegerei. Seit dem 14. Mai aber geht es ihm um Menschenleben. „Darum, mit dem Fliegen etwas zu bewirken.“ Fünf Stunden patrouillierte die Seabird damals über der See. Ein Flüchtlingsboot haben sie auf dem Flug nicht entdeckt. Dafür aber das Rettungsschiff Sea Watch III, das zu dem Zeitpunkt ebenfalls unterwegs war.

Rettungsschiffe in der Nähe sind die komfortabelste Lösung

Ein solches Rettungsschiff in der Nähe zu wissen, sei die komfortabelste Lösung, sagt El Manfalouty, wenn sie auf ein Flüchtlingsboot treffen. Dann wissen sie die Flüchtlinge relativ schnell in Sicherheit. Doch wenn kein Rettungsschiff in der Umgebung ist, wird es kompliziert für die Besatzung: Handelsschiffe zum Beispiel nehmen nur selten Geflüchtete auf, seit ihnen in Italien droht, nicht am Hafen anlegen zu dürfen.

Pilot (links) und Rettungskoordinators (rechts) teilen sich das Cockpit.
Pilot (links) und Rettungskoordinators (rechts) teilen sich das Cockpit. | Bild: Jens Scheibe

Und dann gibt es Fälle, da ist im Umkreis von 60 Kilometer niemand: „Besonders im Osten, wo die Distanzen größer sind und weniger Schiffsverkehr herrscht.“ Dann muss El Manfalouty als Pilot sich die Frage stellen, wie lange das Flugzeug über dem kleinen Boot bleiben kann. Oder ob sie irgendwann umdrehen müssen, weil ihnen der Treibstoff ausgeht. Für die Menschen in dem Boot könne das das Todesurteil bedeuten.

Aber wie geht man mit dem Wissen um, Menschen auf offenem Meer zurücklassen zu müssen? „Das Unangenehme ist, dass ich als Pilot die Entscheidung treffen muss, wann genug ist“, sagt der 30-Jährige. „Ich muss den Treibstoffvorrat überwachen, das Wetter bewerten und sichergehen, dass wir wieder heil ankommen.“ Andernfalls würde man selbst zum Notfall werden. El Manfalouty hilft es, die Sache dann nüchtern zu betrachten: „Das ist Physik: Der Tank ist leer.“

94 Menschen im Februar bei Bootsunglück gestorben

Bei jedem Flug sind mindestens zwei Kollegen von El Manfalouty dabei: ein Rettungskoordinator und ein Fotograf. Sie sind für die Dokumentation zuständig und koordinieren den Einsatz. Trifft die Seabird auf ein Flüchtlingsboot, ist der Ablauf immer derselbe.

Zunächst fliegt El Manfalouty rechts um das Boot, damit der Rettungskoordinator die Lage bewerten kann: Was ist das für ein Boot? In welchem Zustand befindet es sich? Bewegt es sich oder nicht? Hält es dicht oder läuft es voll? Anschließend fliegt er auf Anweisung des Fotografen links herum, damit dieser hochauflösende Bilder machen kann. Die sind wichtig, um die Menschen auf dem Boot zählen zu können. „Wir müssen den Rettungsschiffen sagen, ob das 50 oder 80 Menschen sind“, sagt El Manfalouty. Aus dem Flugzeug, das etwa 150 Meter über dem Boot ist, gar nicht so einfach.

Alle Eindrücke hält die Besatzung schriftlich fest und gibt sie an die sogenannte Ground Crew – die Bodengruppe – weiter. Die meldet das an die italienische Regierung, die Hilfe sucht. Oder auch nicht, wie bei dem Fall im Februar südlich von Italien. Ein Flugzeug der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache, auch Frontex genannt, hat ein Boot gesichtet und die Informationen nach Rom gemeldet.

Aber die italienische Regierung hat nichts unternommen, wie die Süddeutsche Zeitung auf Grundlage eines ihr vorliegenden internen Berichts von Frontex berichtete. Etwa sieben Stunden nach der ersten Sichtung von Frontex lief das Boot auf eine Sandbank auf und zerbrach. 94 der fast 200 Geflüchteten, davon mindestens 35 Kinder, starben.

El Manfalouty sagt, er habe Glück, weil er keine Zeit hat, über das Gesehene nachzudenken: „Ich bin als Pilot im Einsatz, ich habe viel zu tun.“ Und im Nachhinein? „Wenn man weiß, dass man bis ans Limit gegangen ist, aber eben nicht darüber hinaus, dann hilft das, um das zu bewältigen.“

EU einigt sich auf strenges Asylrecht

Während das Team von HPI täglich dafür kämpft, dass nicht noch mehr Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, hat sich die Europäische Union auf das strengste Asylrecht ihrer Geschichte geeinigt. Es geht auch um Abschiebung direkt an der EU-Außengrenze, per Haft oder Abkommen mit Nicht-EU-Staaten, die die Flüchtlinge aufnehmen. Es geht um Lager, wie sie schon in Griechenland existieren, in denen Geflüchteten in haftähnlichen Bedingungen leben.

Deutschland stimmte den Plänen weitestgehend zu. Innenministerin Nancy Faeser hält sie für ein „historisches Momentum“ auf europäischer Ebene. „Ich glaube, dass es unglaublich wichtig ist, die Registrierung, die Identifizierung bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt durchzuführen, damit wir eben auch offene Grenzen in Europa nach wie vor haben können“, sagte Faeser im Vorfeld des Treffens.

Glücksfall für die Flugzeugbesatzung: Die Sea-Watch konnte zur Rettung herbeigerufen werden.
Glücksfall für die Flugzeugbesatzung: Die Sea-Watch konnte zur Rettung herbeigerufen werden. | Bild: Jens Scheibe

Die Menschen wird das von ihrer Flucht nicht abhalten, ist sich El Manfalouty sicher. Er wünscht sich mehr staatliche Hilfe bei der Rettung der Geflüchteten, statt strengerer Asylregeln oder gar einer Kooperation mit der sogenannten libyischen Küstenwache, die Geflüchtete auf dem Meer abfängt, einschüchtert und zurück nach Libyen bringt. Die Vereinten Nationen nannten die dort herrschenden Zustände in den Gefangenen-Zentren „KZ-ähnlich“.

Frontex meldet nicht jedes gesichtete Boot

Und auch das Auswärtige Amt verurteilt diese Zentren: „Es ist nicht im Sinne der Bundesregierung, dass Menschen dorthin zurückgebracht werden, wo sie massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.“ Eine bilaterale Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache gebe es deswegen nicht. Stattdessen bemüht sich das Auswärtige Amt nach eigenen Aussagen um den Aufbau einer europäisch koordinierten und staatlich getragenen Seenotrettung. Frontex will schon jetzt Frühwarnmechanismen etablieren.

Soweit die Pläne – was aber passiert in diesen Tagen, wenn es um die Rettung von Geflüchteten geht? „Jedes Mal, wenn ein Frontex-Flugzeug auf ein Boot in Seenot stößt, alarmiert es sofort alle benachbarten Rettungskoordinationszentren“, teilt Frontex auf SÜDKURIER-Nachfrage mit. Dazu gehören Italien, Malta und Tunesien.

El Manfalouty widerspricht: „Wir wissen, dass Frontex häufig Boote in Seenot sichtet und diese nicht an die Rettungsstellen und auch nicht an das nächstgeeignete Schiff meldet.“

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Wut sei es nicht, was El Manfalouty beim derzeitigen Vorgehen der EU und Deutschland empfindet. „Wut hat immer einen Moment von Überraschung. Aber das sehe ich ja kommen“, sagt der Pilot. „Ich empfinde dabei Scham. Weil es in unserem Namen passiert.“

El Manfalouty nennt diesen Weg, den die EU derzeit geht „den dümmsten von allen“. Denn es hindere die Menschen nicht daran, in Boote zu steigen, wie die Zahlen zeigen. Zahlen, die derzeit höher sind als 2018, bevor die EU die Asylregeln schon einmal verschärft hat. Der Pilot sagt: „Am Ende kommen die Leute immer an. Entweder in Italien oder auf dem Meeresboden.“