Manfred Lucha sieht seit Monaten gehetzt, wenn nicht erschöpft aus. Dass der baden-württembergische Gesundheits- und Sozialminister seit Beginn der Pandemie auch erheblich an Gewicht eingebüßt hat, verstärkt den Eindruck noch. Seit diesem Wochenende mit drei Tagen heillosem Corona-Verordnungschaos im Land sind Kinn und Nase des Grünen-Politikers noch etwas spitzer, ist der Blick flackeriger geworden.
Man arbeite rund um die Uhr im Sozialministerium, sagte Lucha an der Seite von Regierungschef Winfried Kretschmann, als beide am Dienstag in Stuttgart vor der Presse die Ereignisse des Wochenendes erklären sollten.
Und Lucha sah dabei aus, als habe er nicht nur einen 24-Stunden-Tag, sondern ein halbes Dutzend davon hinter sich. Dazu kam ein an dem selbstbewussten Ravensburger bislang ungewohnter Zug: Demut. Dass es „denkbar schlecht gelaufen“ sei, dass man sich „nur entschuldigen“ könne dafür, dass die am Freitag veröffentlichte und binnen 24 Stunden später zweimal nachgebesserte Corona-Verordnung maximale Verwirrung ausgelöst habe, räumten Lucha und auch Kretschmann zerknirscht ein.
„Das darf nicht mehr vorkommen“, sagte Kretschmann. Konsequenzen für die Zukunft will er allerdings nicht ziehen. „Das läuft ja nicht jede Woche so, ich habe keinen Grund anzunehmen, dass sich das wiederholt“, brummte der Regierungschef.
Selbst der Koalitionspartner schoss quer
Was war passiert? Erst waren am Freitagabend wenige Stunden nach Vorlage der zuvor tagelang abgestimmten und geprüften Verordnung dann doch plötzlich Geboosterte von der 2G-plus-Regel ausgenommen worden, am Samstag protestierten dann CDU-Fraktions- und Regierungsmitglieder auf Social-Media-Kanälen gegen die gemeinsam beschlossene Verordnung und kündigten Nachbesserungen an, und schließlich wurden auch Geimpfte ausgenommen, deren zweite Impfung weniger als sechs Monate zurückliegt.
Der Schaden war in der Welt, der Ärger groß, Handel und Gastronomie in Aufruhr, der Eindruck vom ersten grün-schwarzen öffentlichen Dissens in der Welt und Regierungschef und Sozialminister in höchster Erklärungsnot.
Eine maue Erklärung
Der Eindruck in der Öffentlichkeit: verheerend. Der Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der Regierung: groß. Die Erklärung: mau. Kretschmann verwies ausholend auf „schwierige und langwierige Abstimmungsprozesse und rechtliche Prüfungen“, das Virus nehme „eben auf Verwaltungsakte keine Rücksicht, aber wir müssen das“ sagte Kretschmann. Und die Verordnung habe eben am Freitag noch rausgemusst, damit Großveranstaltungen wie Fußballspiele am Samstag nicht hätten vor einem Riesenpublikum stattfinden können.
Und überhaupt: Jeder Gesundheitsminister der Republik werde gerade ständig kritisiert, und überhaupt hätten es hinterher ohnehin immer alle vorher besser gewusst. Und über die wenig hilfreichen Postings der CDU werde koalitionsintern noch zu reden sein.
„Reicht Ihnen das?“
„Chaos, Chaos, Chaos“, fasste SPD-Landtagsfraktionschef Andreas Stoch das Corona-Management am Dienstagnachmittag bei der Corona-Sondersitzung des Landtags zusammen, „es hat wieder einmal am Können gefehlt, und was dabei herauskam, kann man nur als Chaos bezeichnen. Reicht Ihnen das als Leistung Ihres Gesundheitsministers?“ fragte Stoch den grünen Regierungschef und gab die Antwort gleich selbst: „Das kann Ihnen nicht reichen.“
Stoch zählte eine ganze Latte von Luchas vermeintlichen Versäumnissen und Fehlern auf, von der Teststrategie bis zum Impfmanagement. Der folgende gemeinsame Antrag von SPD und FDP, Kretschmann möge seinem Sozialminister die Verantwortung für das Corona-Management entziehen, wurde aber mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen von Grünen und CDU abgelehnt.
Grüne sehen nur Parteipolitik der Opposition
Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz wetterte zurück. „Viel Geschrei, wenig Substanz. Die Pandemie eignet sich nicht für Parteipolitik, Herr Kollege Stoch“, schimpfte Schwarz, und die SPD erwecke geradezu den Eindruck, als gebe es die Pandemie nur in Baden-Württemberg.
Auch CDU-Fraktionschef Manuel Hagel stellte sich koalitionstreu explizit hinter das Corona-Management der Regierung – und lobte namentlich den Amtschef des Sozialministeriums, Uwe Lahl. „Und Lucha nicht?“ ätzte ein Zwischenrufer aus der SPD. Dass Kretschmann indirekt auch die Postings der CDU-Seite für das Verordnungswirrwarr verantwortlich machte, hatte bei der CDU Irritationen ausgelöst. Schließlich sind die federführenden Ministerien bei der Corona-Verordnung – Gesundheits- und Staatsministerium – in grüner Hand. Aber auch die CDU kann sich beteiligt fühlen. Hagel selbst hatte schließlich noch vor kurzem Wirtschaft und Handel mit der Forderung nach einem kompletten Lockdown entsetzt, ausgerechnet aus seiner CDU-Fraktion aber waren am Wochenende die Forderungen nach Lockerungen öffentlich geworden. Auch aus dem Wirtschaftsministerium, das die Verordnung zuvor unbeanstandet mit abgesegnet hatte. „Das alles war eine Verkettung von Mist“, fasste einer aus der CDU-Fraktionsführung im Landtag die Lage zusammen.
Kretschmann selbst, der vor dem Parlament durchaus demütig die Fehler einräumte und um Entschuldigung für die Verwirrung gebeten hatte, verwahrte sich aber gegen die Vokabel „Chaos“ und wiederholte flammend die Warnungen vor der Pandemie und die Appelle zum Impfen. Für FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke wenig überzeugend. Rülke: „Es sieht aus wie Chaos, es fühlt sich an wie Chaos – es ist Chaos, Herr Ministerpräsident.“