Herr Palmer, Tübingen steht trotz Millioneneinsparungen vor einem Defizit von 35 Millionen Euro, der jüngste Haushaltsentwurf wurde nicht genehmigt. Wie kam es dazu?
Boris Palmer: Wir erleben einen nie dagewesenen Absturz der kommunalen Finanzen, nicht nur in Tübingen, sondern bundesweit. Die Gründe sind stark steigende Sozialkosten, ein sehr hoher Tarifabschluss und mittlerweile auch zurückgehende Steuereinnahmen. Die Sozialkosten betreffen uns vor allem als Kreisumlage, mit Steigerungen im Bereich von 30 bis 40 Prozent bei Jugendhilfe, Behinderteneingliederung und Flüchtlingsunterbringung.
Ganz extrem gilt das, nicht in Tübingen, aber in vielen anderen Landkreisen, auch bei den Krankenhausdefiziten. Die Ausgaben werden durch Leistungsgesetze von Bund und Ländern bestimmt, wir können kaum etwas dagegen tun. Die Wirtschaftsschwäche wirkt sich nun auch auf unsere Einnahmen aus.
Dem Tarifabschluss haben die Kommunen zugestimmt. In Tübingen haben Sie in der Vergangenheit ambitionierte Investitionen getätigt, etwa in Klimaschutz und Digitalisierung. Würden Sie heute anders entscheiden?
Palmer: Nein. Deutschland hat in den letzten 30 Jahren zu wenig in Zukunftsthemen investiert. Die Investitionen belasten uns auch nicht. Ein Beispiel: Unsere bundesweit umstrittene beheizbare Radbrücke über die Eisenbahn verschlechtert das Jahresergebnis um 300.000 Euro. Unsere Steuerausfälle machen 14 Millionen Euro aus und das Jahresdefizit ist auf 35 Millionen Euro prognostiziert. Allein diese Größenverhältnisse zeigen; Wir müssen die laufenden Ausgaben in den Griff bekommen. Investitionen zu streichen, wäre völlig falsch.
Haben die Kommunen zu optimistisch geplant?
Palmer: Ich bin seit 18 Jahren im Amt und habe nie etwas Vergleichbares erlebt. Tübingen hatte durchaus für Risiken vorgesorgt. Vor zwei Jahren hatten wir noch eine Rücklage von 70 Millionen Euro. Dieser Absturz war nicht vorhersehbar. Deshalb müssen Bund und Land dringend handeln, denn wir fahren die Kommunen an die Wand. Nach meiner Überzeugung ist das auch eine Gefährdung der Demokratie, wenn vor Ort nichts mehr funktioniert.
Erwarten Sie Geld?
Palmer: Ich erwarte erst einmal, dass wir die Ausgabenseite in den Griff bekommen. Wir haben ein solches Dickicht an Vorschriften angehäuft, dass wir dafür wahnsinnig viel Personal brauchen, das wir nicht mehr bezahlen können. Das muss der erste Schritt sein. Natürlich brauchen wir auch mehr Geld. Mir wäre es lieber, Bund und Länder würden ihre Rechnungen bezahlen, statt uns die Last aufzubürden.
Sie sprechen über Pflichtaufgaben, die nicht ausfinanziert werden. Kommen die nicht meistens vom Bund?
Palmer: Die großen Kostentreiber kommen tatsächlich vom Bund, der macht die Sozialgesetze. Das betrifft ja insbesondere auch die Frage, welche Menschen ins Land kommen und als Bedarfsgemeinschaft Leistungen beziehen können. Oder denken Sie an das Bundesteilhabegesetz – es führt zu einer Verzweihundertfachung des bürokratischen Aufwands ohne Verbesserung für die Behinderten. Das muss entweder weg oder voll bezahlt werden.
Die Kommunen haben keine direkte Verhandlungsbeziehung zum Bund, das Land agiert in Berlin als ihr Anwalt.
Palmer: Richtig, und das ist ein Problem. Man nimmt uns nicht ernst genug, tut es als Jammern ab und gefällt sich darin, neue Versprechen an die Bevölkerung zu machen. Ein aktuelles Beispiel ist die Ganztagsschule – eine tolle Sache, wenn man das Personal und das Geld hat. Die Bundesmittel für die Investitionen machen aber nur etwa zehn Prozent dessen aus, was die Kommunen an Anträgen eingereicht haben. Wenn man 90 Prozent von anderen zahlen lässt, ist es leicht, große Versprechungen zu machen. So geht es einfach nicht weiter.
Kann man aus der Anwaltsfunktion des Landes eine moralische Verpflichtung ableiten, solche Defizite auszugleichen?
Palmer: Beim Ganztagsausbau hat das Land tatsächlich genauso reagiert und die Bundesmittel etwa verdreifacht. Ich würde nicht von einer moralischen Verpflichtung sprechen, aber von einer politischen. Bürger durchschauen oft nicht, wer verantwortlich ist. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die Dinge funktionieren. Daran krankt es in Deutschland immer mehr.
Städtetagspräsident Frank Mentrup (SPD) wirft Innen- und Kommunalminister Thomas Strobl (CDU) Untätigkeit vor; Strobl sei ein „Totalausfall“ für die Kommunen. Stimmen Sie zu?
Palmer: Ich spüre die Not, die aus der Anklage von Kollege Mentrup spricht, am eigenen Leib. Aber Kritik an Personen bringt uns nicht weiter. Wir sollten Lösungen suchen.
Was kann Strobl denn tun – und tut er es aus Ihrer Sicht ausreichend?
Palmer: Wenn es um Geld geht, ist er nur indirekt zuständig, sozusagen als Anwalt der Kommunen auch innerhalb der Landesregierung. Er könnte uns aber beim Abbau von Vorschriften helfen. Das würde manches einfacher und günstiger machen. Bei der Stadtverwaltung Tübingen arbeiten mittlerweile 2000 Menschen. Ein Wertgutachten für ein identisches Grundstück hatte vor 20 Jahren vier Seiten und heute 60. Das muss jemand schreiben, dadurch wird nichts besser. Das ist keine zusätzliche Wertschöpfung. Es geht immer nur um Absicherungen, Haftungs- und Verantwortungsfragen.
Spart das nicht Kosten im Nachgang, weil man sonst die abgesicherten Dinge im Streitfall ausfechten müsste?
Palmer: Das wäre so, wenn es heute weniger Streitigkeiten gäbe als vor 20 Jahren. Das ist aber nicht der Fall. Es sind einfach Bewertungsvorschriften, und wir können das ganze Personal dafür mittlerweile tatsächlich nicht mehr bezahlen.
Strobl hat den Städten mehr Priorisierung empfohlen.
Palmer: Natürlich kann man priorisieren. Der Tübinger Gemeinderat hat schon mit dem Haushaltsbeschluss Kürzungen von zwölf Millionen Euro beschlossen. Weniger Schulsozialarbeiter, höhere Gebühren für die Kita und die Bibliothek, weniger Busfahrten, Streichung ganzer Buslinien, Stopp aller Pläne für den Ausbau der Hallenbäder in Tübingen.
Das kann man alles machen, aber es sind jetzt schon Einschnitte, wo man am Knochen nagt. Denn das sind alles Ausgaben, die wichtig sind, die von den Leuten gewollt werden und wo die Einschnitte spürbar sind.
Gereicht haben sie nicht.
Palmer: Man kann weitergehen. Wir haben immer noch 20 Stellen für Schulsozialarbeiter, könnten davon zehn streichen. Aber was sind die Konsequenzen? Deswegen ist es mir wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht diese Ausgaben, die wir jetzt streichen, der Grund für unsere Finanzprobleme sind, sondern Ausgaben, die wir selbst gar nicht steuern können, und Rückgänge der Einnahmen, die wir auch nicht beeinflussen können.
In diesem Schraubstock den Leuten all das wegzunehmen, was das Leben vor Ort lebenswert macht und was für die Gemeinschaft in Zukunft wichtig ist, wie Kinderbetreuung und Schule – das ist eine Prioritätensetzung, die dem Land langfristig schweren Schaden zufügt. Letzte Ausflucht sind Steuererhöhungen. Wir werden in Tübingen nicht mehr umhinkommen, Steuererhöhungen bei Grund- und Gewerbesteuer zu diskutieren, und zwar vehement.
Was bedeutet vehement?
Palmer: Vielleicht ein Drittel mehr als bisher. Das kann große gesellschaftliche Zerwürfnisse erzeugen. Deswegen ist mir der Hinweis auf die Keimzelle der Demokratie so wichtig: die Kommunen. Wenn wir vor Ort unsere Aufgaben nicht mehr erfüllen können, dann ist die Akzeptanz des Staatswesens insgesamt in Gefahr. Das wird massiv unterschätzt.