„So etwas habe ich davor und danach nie wieder gesehen“, sagt Peter Rimmele. Kaum ein Haus habe bei der Ankunft des Hegauers im mehr als 12.000 Kilometer entfernen Osttimor ein Dach gehabt. Die Menschen hätten in Ruinen gehaust. „Es war schrecklich. Wir haben auf einem Schiff für Bohrinselarbeiter geschlafen“, erinnert sich der heute 68-Jährige.

Kurz zuvor war es in dem südostasiatischen Inselstaat zu einer schockierenden Gewalteskalation gekommen. Unmittelbar nachdem sich Osttimor 1999 in einem Referendum für unabhängig von Indonesien erklärt hatte, töteten pro-indonesische Milizen und Teile der Armee Tausende Menschen, vergewaltigten Hunderte Frauen und zerstörten rund 60.000 Häuser – 75 Prozent der Infrastruktur Osttimors. „So ähnlich muss es in den zerbombten Städten Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg ausgesehen haben – meine Eltern haben das noch miterlebt“, schildert der Aacher.

Schusswaffen waren um die Jahrtausendwende in Osttimor omnipräsent.
Schusswaffen waren um die Jahrtausendwende in Osttimor omnipräsent. | Bild: Erwin Theileis

„Die haben einen richtig geködert“

Rimmele wurde 1956 in Singen geboren und wuchs als ältestes von vier Kindern im Hegau-Städtchen Aach auf. Sein Bruder ist der Astrophysiker Thomas Rimmele, der auf Hawaii das weltweit größte Sonnenteleskop leitet.

Als Peter Rimmele die Realschule in Singen absolvierte, seien einige seiner Aacher Schulkollegen zur Landespolizei gegangen. „Die haben einen richtig geködert“, sagt er schmunzelnd. Neben ihm hatten nur zwei oder drei von über 30 Bewerbern den polizeilichen Aufnahmetest bestanden. „Da war man schon ein bisschen stolz, und weil ich den Polizeidienst schon in der Tasche hatte, habe ich mich nicht mehr richtig um andere Jobs gekümmert“, erinnert sich der Hegauer.

Peter Rimmele im Alter von etwa fünf Jahren an der Aachquelle.
Peter Rimmele im Alter von etwa fünf Jahren an der Aachquelle. | Bild: Rimmele

Die Oma hatte kein Verständnis

Sechs Jahre sollte er Polizist bleiben, die meiste Zeit davon in Konstanz. „Aber schon bei der Bereitschaftspolizei in Biberach an der Riß habe ich gemerkt, dass ich nicht im mittleren Beamtendienst bleiben möchte.“

Der Aacher absolvierte das Abendgymnasium in Radolfzell und schied mit 23 Jahren freiwillig aus dem Staatsdienst aus, um in Freiburg Jura und Wirtschaftsgeografie zu studieren. „Meine Oma hat nie verstanden, wie ich nur als Beamter aufhören konnte“, erzählt Rimmele mit einem Lächeln.

Peter Rimmele als junger Polizist in Uniform.
Peter Rimmele als junger Polizist in Uniform. | Bild: Rimmele

Er blieb der Polizei jedoch treu und arbeitete auch während seiner gesamten Studentenzeit in Freiburg im nebenberuflichen Schichtdienst als freiwilliger Polizist – mit Ausnahme eines Studienjahres im Ausland. „Die Zeit in Kanada war prägend für mein weiteres Leben und hat sicher zu meiner Weltoffenheit beigetragen“, sagt der 68-Jährige rückblickend.

Ein Zufall sollte sein Leben auf den Kopf stellen

Nach dem Studium und der ersten juristischen Staatsprüfung war er für zweieinhalb Jahre im Referendariat als Richter, Staatsanwalt und Jurist tätig. Die Station in der Verwaltung der Landespolizeidirektion Freiburg sollte sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen: „Ein Kollege aus Karlsruhe wurde gerade Präsident der sächsischen Landespolizei, die Baden-Württemberg nach der Wende als Partnerland neu aufbaute, und suchte einen Juristen, der etwas von der Polizei versteht“, erzählt Rimmele.

So kam es, dass ihm der Kollege anbot, für ein Jahr als sächsischer Landesbeamter ins Innenministerium des Freistaates nach Dresden zu gehen. „Das hat bis heute gehalten“, sagt der 68-Jährige mit einem Lachen – wenn auch ganz anders, als er jemals für möglich gehalten hatte.

Bei Lotterieziehungen war er im TV zu sehen

Damals, so kurz nach der Wende, mussten in Dresden zahlreiche Gesetze geschrieben und im Landtag beschlossen werden, um das neue Bundesland auf gesamtdeutsches Niveau zu heben. „Fast alle sächsischen Landesgesetze im Sicherheitsbereich tragen meine Handschrift“, sagt der Hegauer.

Rimmele wurde Ministerialrat und Referatsleiter im Landespolizeipräsidium und später in der Kommunalabteilung im sächsischen Staatsministerium des Inneren. In dieser Funktion trat er bei Lotterieziehungen als Vertreter des Freistaates im Fernsehen auf.

„Wo liegt denn dieses Osttimor?“

Um die Jahrtausendwende kam es zum größten Umbruch im Leben von Peter Rimmele: Die Vereinten Nationen (UN) baten die Bundesregierung, im von Gewaltexzessen erschütterten Osttimor ein nachhaltiges Meldewesen nach deutschem Vorbild aufzubauen.

Der UNTAET-Verwaltungssitz in der osttimoresischen Hauptstadt Dili – heute der Regierungssitz.
Der UNTAET-Verwaltungssitz in der osttimoresischen Hauptstadt Dili – heute der Regierungssitz. | Bild: Erwin Theileis

Denn während der Unruhen waren sämtliche Einwohnerdaten vernichtet worden. „Der Bund fragte dann bei den Ländern an, ob es jemanden gebe, der auslandsaffin sei und den fachlichen Hintergrund mitbringe“, erzählt der 68-Jährige.

Die Wahl fiel auf Rimmele. „Meine erste Frage war für einen studierten Geografen völlig unwürdig: Wo liegt denn dieses Osttimor überhaupt?“, erzählt der Aacher schmunzelnd.

Die Antwort auf Rimmeles Frage: Hier liegt Osttimor. Der Inselstaat in Südostasien hat heute rund 1,35 Millionen Einwohner, die ...
Die Antwort auf Rimmeles Frage: Hier liegt Osttimor. Der Inselstaat in Südostasien hat heute rund 1,35 Millionen Einwohner, die Staatsfläche ist etwa halb so groß wie die Baden-Württembergs. | Bild: Maptiler/SK

Das Auswärtige Amt stellte ein deutsches Kontingent mit Rimmele und 14 weiteren Beamten zusammen und entsandte sie im Frühjahr 2000 zur Mission „UNTAET“, die Abkürzung für United Nations Transitional Administration in East Timor, also der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen für Osttimor.

Der offizielle UN-Ausweis von Peter Rimmele während seiner Zeit in Osttimor.
Der offizielle UN-Ausweis von Peter Rimmele während seiner Zeit in Osttimor. | Bild: René Laglstorfer

„Die UN haben Osttimor de facto regiert und verwaltet“, erzählt Rimmele, dem die Leitung des deutschen Kontingents anvertraut wurde. Angesichts der damals anstehenden allerersten Wahlen im Land sollte er ein Wähler- und Einwohnerregister auf die Beine stellen. „Im Prinzip habe ich zunächst nichts anderes gemacht als in Sachsen: Gesetzesentwürfe geschrieben und ins Parlament eingebracht“, erklärt Rimmele.

Erste osttimoresische Geburtsurkunde aus Berlin

Zwei Wochen amtierte er wegen einer Auslandsreise der zuständigen Ministerin als Innenminister von Osttimor. „Da kommst du als früherer kleiner Polizeibeamter nach Osttimor und wirst plötzlich zeitweise Minister der Übergangsregierung“, sagt der 68-Jährige.

Rimmele leitete die Neuregistrierung der gesamten Bevölkerung Osttimors. Er stellte die allererste Geburtsurkunde aus – auf Sicherheitspapier der Berliner Bundesdruckerei und der Unterschrift des Hegauers.

Der erste Staatspräsident von Osttimor, Xanana Gusmão, mit seinem Sohn, der die erste offizielle Geburtsurkunde des jungen Landes ...
Der erste Staatspräsident von Osttimor, Xanana Gusmão, mit seinem Sohn, der die erste offizielle Geburtsurkunde des jungen Landes erhielt. Während des Unabhängigkeitskampfes Osttimors war Gusmão jahrelang als „Staatsterrorist“ in Indonesien inhaftiert. | Bild: Rimmele

Plötzlich die schönste Stadt der Welt

„Doch die Stimmung in Osttimor war damals sehr aufgeheizt“, sagt Rimmele. 17 UNTAET-Mitarbeiter starben bei Angriffen pro-indonesischer Milizen. „Ich erinnere mich an einen großen Trauergottesdienst.“

Unsicher habe sich Rimmele dank Polizei- und Militärbegleitung dennoch nie gefühlt. Doch die zerstörte Umgebung sollte sich auf seine Stimmung niederschlagen. „Als wir nach zwei Monaten zum ersten Mal mit einem Versorgungsflug ins australische Darwin ausgeflogen wurden, war diese eher langweilige Stadt für mich plötzlich die schönste auf der Welt“, sagt der 68-Jährige.

Peter Rimmele in seinem UN-Büro in der osttimoresischen Hauptstadt Dili.
Peter Rimmele in seinem UN-Büro in der osttimoresischen Hauptstadt Dili. | Bild: Klaus Dünzkofer

Ex-Chef starb bei Terroranschlag in Bagdad

Doch die Zeit für den Aufbau des Wählerregisters für die bevorstehenden Wahlen wurde knapp, denn der UN-Mission ging das Geld aus. Der Chef der Übergangsregierung von Osttimor, Sérgio Vieira de Mello, nahm Rimmele beiseite. Er sagte ihm, es hänge von ihm ab, ob die Wahlen pünktlich stattfinden können, bevor die Mission reduziert werde und womöglich wieder Chaos im Land ausbreche.

„Der Druck war enorm, aber Sérgio war auch der beste Chef, den ich je hatte. 2003 sprengten Terroristen ihn mit 21 weiteren Personen in Bagdad in die Luft“, sagt der Hegauer sichtlich betroffen.

Sérgio Vieira de Mello und Peter Rimmele im Gespräch über die osttimoresische Registrierungskampagne. Im Hintergrund sind zwei ...
Sérgio Vieira de Mello und Peter Rimmele im Gespräch über die osttimoresische Registrierungskampagne. Im Hintergrund sind zwei UN-Mitarbeiterinnen aus dem deutschen Team zu sehen. | Bild: Klaus Dünzkofer

In Osttimor gelang die Bewährungsprobe und die ersten freien, demokratischen Wahlen konnten wie geplant stattfinden. „Wir waren erfolgreich, sicher auch weil ein Drittel meines Kernteams aus der deutschen Verwaltung kam“, erklärt Rimmele.

Zwillinge als Weihnachtsüberraschung

In den knapp zwei Jahren in Osttimor fand der Hegauer auch sein privates Glück: Er lernte seine heutige Frau, die kenianische UN-Mitarbeiterin Catherine, kennen.

Während des ersten gemeinsamen Heimaturlaubs im Hegau bestätigte ein Engener Gynäkologe dem Paar an Heiligabend 2001, dass sie Zwillinge erwarten. „Das war unsere Weihnachtsüberraschung und das schönste Geschenk“, sagt Rimmele. André und Alexander wurden 2002 in der indonesischen Hauptstadt Jakarta geboren.

Peter und Catherine Rimmele heirateten 2004 in Aach. Gefeiert wurde in Gailingen am Hochrhein, wo das Foto entstand.
Peter und Catherine Rimmele heirateten 2004 in Aach. Gefeiert wurde in Gailingen am Hochrhein, wo das Foto entstand. | Bild: Rimmele

Dorthin war die Familie übersiedelt, weil Peter Rimmele von der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) das Angebot erhalten hatte, als Regierungsberater das indonesische Ministerium für Verwaltungsreform sowie die Antikorruptionskommission zu unterstützen.

„Indonesien war damals ein furchtbar korruptes Land“, erzählt der zweifache Vater. Seine Aufgabe war es, an einem Gesetz mitzuarbeiten, das die grassierende Korruption in der Verwaltung eindämmen sollte.

Eines der Ergebnisse: Mit Unterstützung eines deutschen Rechenzentrums konnten sich Indonesier nun erstmals anonym beschweren, ohne Angst vor Verfolgung haben zu müssen. „Mein früherer Chef sagte mir, das war ein Meilenstein für Indonesien“, so Rimmele.

Catherine und Peter Rimmele mit ihren Zwillingssöhnen Alexander und André in der kenianischen Hauptstadt Nairobi.
Catherine und Peter Rimmele mit ihren Zwillingssöhnen Alexander und André in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. | Bild: Rimmele

Über Ruanda, den Libanon nach Indien

Nach acht Jahren in Jakarta ging es für die vierköpfige Familie weiter nach Ruanda. Dort unterstützte der Aacher als Regierungsberater das Ministerium für Finanzen und Kommunen.

Nach vier Jahren in Ruanda wechselte er 2012 mit seiner Familie zur Konrad-Adenauer-Stiftung. Dort leitete er neben einem Rechtsstaatsprogramm für den Nahen Osten und Nordafrika die Auslandsbüros im Libanon und zuletzt in Indien. Der Hegauer setzte sich den Austausch der arabischen und indischen Richter und Parlamentarier mit ihren europäischen Kollegen ein.

Nach fünf Jahren Wirkens im Libanon erhielt Peter Rimmele vom dortigen Verfassungsgericht einen Orden zum Abschied, wobei sein ...
Nach fünf Jahren Wirkens im Libanon erhielt Peter Rimmele vom dortigen Verfassungsgericht einen Orden zum Abschied, wobei sein Familiennamen leicht abgeändert wurde. | Bild: René Laglstorfer

„Die wenigsten indischen Parlamentarier haben eine Vorstellung davon, wie die EU funktioniert“, sagt Rimmele. Viele hätten ein Freihandelsabkommen mit Deutschland gewünscht, das in Indien hoch im Kurs stehe. „Aber dafür ist die EU zuständig.“

Dankbar für „exotisches Berufsleben“

Nun ist Peter Rimmele seit nicht allzu langer Zeit im Ruhestand. „Eigentlich war ich nie der Typ, der irgendwohin auswandern wollte. Die Sommer habe ich immer mit meiner Familie in Aach verbracht“, erzählt der 68-Jährige.

Der frühere indische Außenminister Salman Khurshid (links) mit Peter Rimmele.
Der frühere indische Außenminister Salman Khurshid (links) mit Peter Rimmele. | Bild: Konrad-Adenauer-Stiftung

Wo er sich nun dauerhaft niederlassen wird, ob in Indien, wo seine Söhne studieren, oder in Kenia, wo seine Frau lebt, hat er noch nicht entschieden. Wahrscheinlich wird es eine Mischung, aber eines steht für ihn jetzt schon fest: „Zu Aach und dem Hegau werde ich immer eine Beziehung haben“, sagt Rimmele und blickt dankbar auf ein exotisches Berufsleben zurück, das er nicht missen möchte.