Sie trägt den Karton selbst. Drei Kilo Bronze – das Kunstwerk, das sie fast getötet hätte. Niemand hält ihr die Tür auf, als sie das Gewicht durch das Treppenhaus schleppt. In ihre Wohnung in Überlingen am Schatzberg. Es ist das einzige Stück, das sie zurückhaben will: eine teure Skulptur aus Paris, jetzt mit abgebrochenem Sockel. Und zugleich eines der Tatwerkzeuge, mit dem ihr der Schädel zertrümmert wurde.

Als sie vom Polizeirevier zurückkommt, stellt sie das Stück beiseite. Dann bricht es aus ihr heraus. Sie weint, stundenlang. Alles ist wieder da – die Gewalt, die Angst, der Schmerz. Der Torso steht jetzt wieder in seinem Karton, im Schlafzimmer, sicher verwahrt. Aber er bleibt da. Wie eine Erinnerung, die sich nicht verbannen lässt.

Der Fall

Vor acht Monaten stand der Torso noch im Wohnzimmer, als ihn der 60-Jährige nahm, und damit weiter auf sie einschlug. Schwere Blumentöpfe hatte er da schon auf ihrem Kopf zertrümmert. Er, ein Facharzt für Schädel-Hirn-Verletzungen. Wohl nur, weil Nachbarn aus dem Stockwerk darunter das Poltern hörten, und die Tür aufbrachen, ließ er von ihr ab. Der Mann sprang vom Balkon und verletzte sich schwer. Ein halbes Jahr später begann am Landgericht Konstanz der Prozess gegen den Österreicher.

Warum sie spricht

Bouchra ist keine Frau, die sich versteckt. Darum erzählt die gebürtige Französin ihre Geschichte, darum zeigt sie sich. Auch die Narben. Die 52-Jährige will nicht, dass es wieder nur um ihn geht – den Mann, den sie einst liebte. Der sie töten wollte, am 28. Oktober 2024. Weil sie sich vielleicht trennen wollte, weil sie sich von ihm nicht kaufen lassen wollte. Als der Prozess gegen ihn, einen 60-jährigen Neurologen, im April vor dem Landgericht Konstanz begann, sorgte das für Aufsehen. Nicht nur wegen der Brutalität der Tat. Sondern auch wegen der Milde des Urteils.

Der 60-jährige Arzt wurde im Mai vom Landgericht Konstanz verurteilt. Inzwischen ist das Urteil rechtskräftig.
Der 60-jährige Arzt wurde im Mai vom Landgericht Konstanz verurteilt. Inzwischen ist das Urteil rechtskräftig. | Bild: Durain

Der Vorsitzende Richter sagte während der Urteilsbegründung, das Überraschendste an diesem Fall sei gewesen, dass sie überlebt habe. Dass ein Paar aus dem Erdgeschoss hinhörte, und die Courage hatte, hochzugehen, und eine Tür aufzubrechen. Sonst wäre sie gestorben. Es war ein Angriff aus dem Nichts. Ein Akt entfesselter Gewalt. Und doch endete der Prozess mit einer Freiheitsstrafe von weniger als fünf Jahren. Und für Bouchra mit der Frage: Was ist mit meiner Gerechtigkeit? Warum wird er so milde bestraft, weil ich lebe?

„Für das System ist es damit erledigt“

Zwei Wochen nach dem Urteil kam das Geld. Sein Geld. Vereinbart im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs, abgeschlossen am letzten Verhandlungstag. Sie stimmte zu. Warum? „Ich dachte, vielleicht würde es ein kleines Gefühl von Gerechtigkeit bringen. Einen symbolischen Schritt in Richtung Heilung.“ Stattdessen kam der Schock. „Für das System ist es damit erledigt“, sagt sie. Für sie, als hätte man einfach einen Deckel auf ihr Leid gelegt. „Hier ist die Entschädigung. Jetzt ist es vorbei.“

Aber für sie ist nichts vorbei. „Dieser Betrag auf meinem Konto fühlt sich nicht wie Gerechtigkeit an, sondern wie Schweigen. Wie das Ende eines Gesprächs, das nie wirklich stattgefunden hat.“

Ein bröckelndes Versprechen

„Ich will nicht ein Name in einer Akte sein.“ Bouchra hat diesen Satz aufgeschrieben, in einer langen Mail, Wochen nach dem Urteil. Sie hat überlebt, ja. Doch was bleibt, ist ein Gefühl der Entwertung. Schon im Krankenhaus, direkt nach dem Angriff, habe man ihr gesagt, die Tat sei schwerwiegend, das werde die Justiz nicht auf sich beruhen lassen. „Ich hielt mich an diesen Worten fest“, schreibt sie. Doch dann kam der Prozess – und das „Versprechen von Gerechtigkeit“ bröckelte nach und nach in ihr.

Warum? Weil das Gericht – gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten – von einem minder schweren Fall des versuchten Totschlags ausging. Der Angeklagte sei zum Tatzeitpunkt in einem affektiven Ausnahmezustand gewesen, seine Steuerungsfähigkeit deutlich eingeschränkt. Eine Tat aus Verzweiflung aus Verlustangst, ja – aber nicht aus Berechnung. Das bedeutete: Strafrahmen drei Monate bis siebeneinhalb Jahre. Der 60-Jährige entschuldigte sich, gestand, was er gestehen konnte. Und er ist nicht vorbestraft gewesen. Innerhalb dieses Rahmens hielten die Richter vier Jahre und neun Monate für angemessen. Dass der Angeklagte geständig war, dass er einen Betrag im Täter-Opfer-Ausgleich zahlte, wurde zu seinen Gunsten gewertet. Der Schuldspruch war eindeutig. Die Strafe – für Bouchra – nicht.

Sie erzählt von den absurden Momenten im Gerichtssaal. Von der Debatte darüber, wie oft er zugeschlagen habe: neun, zehn, dreizehn Mal? Als hinge die Bewertung davon ab. Als ließe sich Schmerz quantifizieren. Währenddessen sind die Fotos ihrer Verletzungen nicht einmal gezeigt worden – sie seien zu brutal gewesen, habe ihr Anwalt gesagt.

Am meisten aber bleibt ihr der Moment nach dem Urteil. Vier Jahre und neun Monate Haft für versuchten Totschlag. „Es war, als hätte er eine Strafe bekommen wie jemand, der Steuerhinterziehung begangen hat.“ Ihre eigene Geschichte, ihre Wunden – sie fühlten sich nicht gesehen. „Ich wünsche mir nicht Mitleid“, schreibt sie. „Ich wünsche mir, dass mein Erleben Gewicht hat. Legitimität.“ Sie will eben nicht nur überlebt haben. Sie will, dass das anerkannt wird.

Auszug wäre auch Flucht

Sechs Wochen nach dem Urteil sitzt sie am großen Esstisch in ihrem Wohnzimmer. Der Tatort liegt zwei Meter hinter ihr. Makellos geputzt, der Fenstersims leer. Früher standen hier Blumentöpfe – mit denen er auf sie einschlug. Dahinter: der Balkon. Dort sprang oder stürzte ihr Ex-Partner in die Tiefe, als die Nachbarn endlich die Tür aufbrachen. Wenn die Sonne auf den See fällt, geht sie hinaus. Der Balkon ist der Ort in der Wohnung, an dem sie Ruhe findet.

Während sie im Krankenhaus war, reinigte ihre Familie die Wohnung gründlich. Sie entfernten Blutspuren vom Boden und der Balkontür, warfen den Teppich weg. Sie wollten ihr ein Zuhause schaffen, das nicht ständig an die Tat erinnerte.

Bouchra hat ihre Wohung nicht verlassen. Sie wollte nicht in ein Frauenhaus fliehen.
Bouchra hat ihre Wohung nicht verlassen. Sie wollte nicht in ein Frauenhaus fliehen. | Bild: Durain

Sie hat nichts umgestellt. Sie ist auch nicht ausgezogen. „Die Wohnung gehört mir, er war nur kurz hier.“ Ihre Wohnung zu verlassen, wäre auch wie eine Flucht. „Das will ich nicht.“ Sie stellt sich. Doch auch acht Monate nach dem Erwachen im Krankenhaus in Ravensburg sagt sie: „Ich habe mich noch nicht vollständig gefunden.“ Gesund werden dauere. Sehr lang.

Fünf Frakturen im Gesicht. Ein offener Schädelbasisbruch, eine Skalpierungsverletzung. Der Kiefer ist schief, das linke Ohr rauscht, der Gleichgewichtssinn gestört. Morgens ist ihr stundenlang schwindelig, Kauen tut weh. Essen, einst Genuss für die Gastronomin, ist zur Qual geworden. „Es fühlt sich an, als seien es nicht meine Zähne“, sagt sie. Der Geschmackssinn ist verändert, die Lust am Kochen verschwunden.

Das Trauma wird bleiben

Sie lag eine Nacht im künstlichen Koma, eine Woche auf der Intensivstation. Monate in Krankenhaus und Spezialkliniken, Dutzende Termine beim Hausarzt folgten. Als sie zu sich kam, sagte sie zu ihrem Sohn: „Ich hab deinen Geburtstag vergessen.“

Erst nach zwei Wochen wagte sie einen Blick in den Spiegel. Wochenlang konnte sie kaum laufen. Weitere Operationen folgten – weitere stehen bevor. Niemand sehe, wie tief die Verletzungen in ihr arbeiten. Aber sie weiß: Das Trauma wird bleiben. Es wird niemals verschwinden, habe ihr die Psychotherapeutin klar gemacht. Es sei ein Teil von ihr, mit dem sie leben muss.

Sie erzählt ihre Geschichte, um anderen Frauen zu zeigen, dass es ein Danach gibt. Es ist wichtig, dass die Gewalt nicht kleingeredet wird, dass Frauen, die überlebt haben, geglaubt wird. Und dass das Strafrecht und die Justiz nicht alles aufarbeiten können.

„Wäre ich tot, hätte er eine höhere Strafe bekommen“

Bouchra hat Glück. Und Menschen. Ihre Familie, ihre Freunde, der Weiße Ring, die Frauenberatungsstelle. Ihre Nachbarn Thomas und Angela – sie verdankt ihnen ihr Leben. Heute sind sie Freunde. „Was geschehen ist, verbindet uns natürlich“, sagt Angela. Das Verantwortungsgefühl ist geblieben. Aber auch das Gefühl, gemeinsam etwas durchgestanden zu haben. „Dass sie lebt, wie sie sich zurückkämpft – das hat auch uns geholfen“, sagt Thomas.

Was bleibt, ist die Irritation. Über das Strafmaß. Über Verlustängste anderer Menschen, um seine Sicht auf Beziehung. Er habe im Affekt gehandelt, hieß es. Und weil Bouchra überlebte, fiel das Urteil milder aus. „Wäre ich tot, hätte er eine höhere Strafe bekommen“, sagt sie. Hätte sie den Täter-Opfer-Ausgleich abgelehnt, wohl auch.

„Ich muss weiter“

Noch zwei Jahre will sie in Überlingen bleiben. Dann macht ihr Sohn Abitur. „So lange bleibe ich. Aber nicht für immer.“ Ob sie noch dieselbe sei wie früher? Sie überlegt. „Das Leben ist nicht mehr selbstverständlich.“ Nicht aufzugeben – das ist ihre Revanche gegen ihn.

Während im Gerichtssaal das Warum im Zentrum stand, sagt Bouchra heute: „Ich hab aufgehört mit dem Warum. Ich muss weiter. Ich werde darauf nie eine Antwort bekommen. Ich will glücklich sein.“ Sie will, dass die Angst vergeht. Dass Normalität zurückkehrt. Und dass ihre Geschichte etwas bewirkt.