In so manchem Schlachthof herrschen unhaltbare Zustände – für Mensch und Tier. Ein offenes Geheimnis, das lange keiner wahrhaben wollte. Politiker, Lobbyisten, Verbraucher haben es totgeschwiegen. Bis das Coronavirus Sammelunterkünfte erreichte, den mangelhaften Infektionsschutz ausnutzte und Hilfsarbeiter infizierte.
In der Region gibt es diese riesige fleischverarbeitende Industrie nicht. Trotzdem sind auch hier Saisonarbeiter aus Osteuropa für Obstbauern am Bodensee nicht wegzudenken.
Erich Röhrenbach aus Immenstaad ist Landwirt in dritter Generation und Vorsitzender der Obstregion Bodensee.

Er arbeitet seit Jahren mit 24 Erntehelfern aus Ungarn, Rumänien und Polen zusammen. Sie leben in drei Wohnungen auf seinem Grundstück. „Viele kommen schon lange zu mir. Es ist eine familiäre Beziehung geworden. Ich war schon auf Hochzeiten eingeladen. Wir vertrauen uns. Das ist viel wert“, sagt der Landwirt. Und deshalb sei man auch „weit weg von Schlachtof-Verhältnissen.“ Dem SÜDKURIER gewährt er einen Blick in seine Unterkünfte.
Um die Infektionsgefahr so gering wie möglich zu halten, wird Hygiene in den Wohnungen groß geschrieben. Duschen und Toiletten werden drei Mal täglich mit Desinfektionsmittel gereinigt. An den Waschbecken hängen Desinfektionsspender. Seife ist ausreichend vorhanden. Statt Handtücher nutzt man jetzt Papier.
Hinweisschilder in unterschiedlichen Sprachen sollen die Erntehelfer an die Hygienevorschriften erinnern.
In den ersten beiden Wochen nach der Ankunft befinden sich die Erntehelfer in strenger Arbeitsquarantäne. In dieser Zeit dürfen sie zwar aufs Feld, aber den Hof ansonsten nicht verlassen. Deshalb geht Erich Röhrenbach für sie einkaufen und teilt sie in Arbeitsgruppen zwischen vier und acht Personen ein. Jeden Morgen wird Fieber gemessen. Eine Person dokumentiert die Temperatur.
Das Hygienekonzept der Politik ist die Grundlage für die Auflagen, die die Landwirte jetzt erfüllen müssen. Neben vielen Details empfiehlt das Papier die Erntehelfer in Einzelzimmern unterzubringen. Das ist – wie bei Erich Röhrenbach – nicht immer möglich. Die Mindestanforderung: halbe Belegung. Ihre Betten in den Unterkünften müssen zwei Meter weit auseinander stehen. Stockbetten dürfen nur einzeln belegt werden. „Wir werden alles zu gegebener Zeit so ausstatten, dass es die Anforderungen erfüllt. Das kriegen wir hin“, gibt sich Röhrenbach optimistisch. Seine Unterkünfte erinnern an einen Ausflug in die Jugendherberge.
Manchmal kommen auch Ehepaare auf seinen Hof zum Arbeiten. Sie brauchen sich natürlich nicht an die Abstandsregeln halten und dürfen in größeren Betten gemeinsam schlafen.
Problematisch wird es in den Gemeinschaftsräumen. Dort trift man sich, verbringt Zeit, kocht gemeinsam – normalerweise. Jetzt muss man auf Abstand gehen.
Und trotzdem ist Erich Röhrenbach erleichtert, dass seine Erntehelfer kommen dürfen. Denn ob das wirklich klappt, war lange unklar: „Vor vier Wochen haben mich einige Helfer noch angerufen und gesagt: ‚Chef, dieses Jahr bleiben wir Zuhause‘“, blickt Röhrenbach zurück. Die Angst vor dem Virus war zu groß und zeitweise gab es für einige Tage einen vollständigen Einreisestopp. „Das war eine Katastrophe. Wir wussten nicht, wie es weitergeht“, sagt Röhrenbach.
Die Situation sei zeitweise so dramatisch gewesen, dass sich der Landwirt eine Versicherung gegen den drohenden Ernteausfall zulegen wollte. Aber absichern in Corona Zeiten? Unmöglich.
Bis die Politik in den Krisenmodus wechselte und den Bauern Systemrelevanz attestierte. Logisch: Obstbauern am Bodensee sind schließlich so etwas wie die Vitaminfabrik für halb Deutschland.
Deshalb dürfen bis zu 80.000 Erntehelfer einreisen, um die Landwirte auf dem Feld zu unterstützen. Vorausgesetzt die Auflagen zum Infektionsschutz werden eingehalten.
Die Regeln gelten vorerst bis Mitte Juni. Dann setzen sich die Politiker mit Bauernverbänden an einen Tisch, um neu zu verhandeln.
„Wir haben uns mit dem Konzept arrangiert“, sagt Hubert Lehle. Auch er bewirtschaftet Obstplantagen in und Immenstaad. „Die allermeisten Auflagen ergeben Sinn. Man muss in zwei Wochen einfach nochmal schauen, dass und wie man nachjustiert“, sagt der Vorsitzende des Obstbaurings Überlingen.
Doch was passiert, wenn der Ernstfall eintritt? Was, wenn allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz das Coronavirus die Bauernhöfe erreicht? Darauf müssen Lehle und Röhrenbach vorbereitet sein und Räume für Isolation vorhalten. „Ich habe hier auf meinem Grundstück ein Haus stehen, das seit fünf Jahren leer ist. Wenn es nicht anders geht, muss ich es eben abbrechen und Wohn-Container hinstellen“, sagt Röhrenbach, während er an der Hauswand lehnt und mit den Achseln zuckt. Über einem Abriss denkt er schon lange nach. Nun wäre der Aufwand – auch wegen Corona – besonders sinnvoll. Dort könnte Röhrenbach Infizierte isoliert unterbringen. Denn so viel ist klar: Außergewöhnliche Umstände erfordern kreative, manchmal kostspielige Lösungen.
Der stellvertretender Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt, Harald Schaum, sieht das Hygienekonzept grundsätzlich kritisch. „Die systemrelevante Branche zu sichern war und ist richtig. Jedoch wurden die dafür notwendigen Regelungen unter Zeitdruck getroffen und enthalten schwerwiegende Mängel“, sagt Schaum im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Der Schutz der Saisonkräfte vor Covid-19 sei nicht sichergestellt.
„Wir fordern klare Regelungen, die weder beim Infektionsschutz noch bei Sozial- und Arbeitsbedingungen oder der Bezahlung Interpretationsspielräume lassen“, sagt Schaum. Viele Medienberichte bestätigten seine Erfahrungen, dass Missstände nicht nur in der Fleischindustrie bestehen. „Auch in der Landwirtschaft gibt es gravierende Verstöße gegen Hygienevorschriften wie etwa die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Ausreichend häufige und unangekündigte Kontrollen vor Ort sind hier unerlässlich.“
150 Kontrollen der Gewerbeaufsicht hat es auf den Bauernhöfen im Bodenseekreis Hubert Lehle und Erich Röhrenbach zufolge bereits gegeben. „Am Anfang waren wir da skeptisch. Aber es sind konstruktive Kontrollen. Ich würde es eher eine Beratung nennen. Und ich finde es gut, wenn wir bescheinigt bekommen, dass wir auf unserem Hof die Auflagen allesamt erfüllen. Wir haben eine wichtige Verantwortung für uns, unsere Erntehelfer aber auch die Gesellschaft. Das nehmen wir sehr ernst“, sagt Lehle.
Wenn alle an einem Strang ziehen – dann sind die Landwirte optimistisch, mit einem blauen Auge in der Corona-Krise davon zu kommen und die Verbraucher froh, auf ihre Äpfle vom Bodensee nicht verzichten zu müssen.