1954, der 4. Juli, das 3:2 der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Ungarn im WM-Finale von Bern, das war nicht nur ein sportlicher Triumph. Es war neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, der Deutschland zerstört und von der Weltgemeinschaft ausgeschlossen zurückgelassen hatte, Balsam für das Ego der Menschen. Nicht in dem Sinne von „wir sind wieder wer“, sondern als Schlüsselerlebnis auf dem Weg der Selbstfindung.
Ein großes Ereignis
Der Historiker Klaus Hildebrand drückte das 1990 in einem Interview mit dem Fernsehreporter und 54er-Zeitzeugen Rudi Michel so aus:
„Nach Jahren des Leidens, des Schreckens, der Entbehrung war es eine Gelegenheit, sich mit einem Ereignis zu identifizieren, das positiv war, das sie beklatschen durften, das zur Identifizierung geradezu einlud, denn diese so genannten Helden von Bern waren ja friedliche Helden. Sie trugen dazu bei, dass Deutschland [...] in die Familie der Völker zurückkehren konnte. Sie bauten an einem Stück Normalität mit, nach der man sich sehnte, sie schweißten die Nation zusammen. Sie waren keine hochdotierten Stars, die in einer anderen Welt lebten, sondern die Männer von nebenan, die ganz normale Berufe hatten. Sie entstammten genau dem Milieu der sie umjubelnden Anhänger und insofern verkörperten sie Alltag und Triumph in einem.“
Helmut Rahn. Eine Legende, ein Optimist.
Helmut Rahn. Der Boss. Die Legende. Beim 3:2-WM-Sieg gegen Ungarn erzielte Rahn zwei Tore. Der Regisseur Sönke Wortmann widmete dem Essener Rechtsaußen den Film „Das Wunder von Bern„. Rahn war anders als seine Teamkameraden – und doch einer von ihnen. Fasst man die Urteile über ihn zusammen, dann war Helmut Rahn ein Enfant terrible mit dem Hang zur großen Lippe, ein Lebenskünstler mit Vorliebe für ein gut gezapftes Pilsken, gelegentlich zorniger Fatalist und meist grenzenloser Optimist, Stimmungskanone der Mannschaft, aber ein Eigenbrötler auf dem Platz, der an schlechten Tagen die Mitspieler zur Raserei brachte und an guten Spiele alleine entschied. Fritz Walter & Co. berichteten nur Gutes über Rahn – vielleicht, weil sie gerne ein bisschen wie er gewesen wären?
Hoher Preis für den Ruhm
Der Boss hat einen hohen Preis bezahlt für den Ruhm. „Er ist gescheitert am Fanatismus seiner Fans“, sagte Rudi Michel 2003, der als Sportjournalist die WM 54 erlebt hatte. Die Botschaft ist eindeutig: Fanatische Fans sind die falschen. Immer und immer wieder musste Helmut Rahn „dat Tor“ erzählen, für Pilsken und Korn. Spät hat der Mann erkannt, dass sein Leben in falsche Bahnen gelaufen war. Als er es merkte, zog er sich zurück und mied selbst die Jahrestreffen der 54er.
„Etikettenschwindel“Sportjournalist Rudi Michel über Sönke Wortmanns Filmtitel
Wortmanns Angebot, am Entstehen des Films mitzuwirken, lehnte Helmut Rahn ab. Im August 2003, im Jahr der Filmpremiere, starb Rahn nach langer Krankheit in Essen. Für einen wie Rudi Michel, der mit der Kommerzialisierung des Fußballs immer seine Probleme hatte, war es damals schwierig mit anzusehen, „wie PR gemacht wird für den Film mit der Figur Helmut Rahn“. „Bern lässt sich nicht nacherzählen, Bern lässt sich nicht filmen“, sagte Rudi Michel zu der Zeit. Der Journalist empfand den Titel von Wortmanns Film als „Etikettenschwindel“.
Ein sportliches Wunder
In Wortmanns Geschichte schaffen es die Helden von Bern, den Kriegsheimkehrer Lubanski erst wieder den Draht zu seinem jüngsten Sohn und danach wohl auch zu seiner Familie finden zu lassen.
Die gezeigte Begeisterung der Menschen bei der Heimreise nach Deutschland – der von jubelnden Menschen überflutete Bahnhof im Film ist Singen – verdeutlicht den gesellschaftspolitischen Wert ihres Erfolges. Und die filmischen Andeutungen des bevorstehenden Wirtschaftswunders geben den Hinweis, dass das „Wunder von Bern“, das zunächst ein sportliches war, auch maßgeblich zur Selbstfindung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland beitrug.

Ein Final-Sieg als zweites Geburtsdatum der Bundesrepublik
Politologen, Historiker, Psychologen und Soziologen haben das „Wunder von Bern“ analysiert. Sie waren sich einig in der Bewertung, dass der 4. Juli 1954 das Symbol eines gesamtgesellschaftlichen Aufschwungs war und neben der Währungsreform vom 19. Juni 1948 das zweite Geburtsdatum der Bundesrepublik Deutschland darstellt, das nicht das offizielle ist (23. Mai 1949). Das Kennzeichen einer historischen Stunde – man nehme die Ermordung John F. Kennedys 1963 oder den Fall der Berliner Mauer 1989 – scheint es zu sein, dass noch Jahrzehnte später jeder genau erzählen kann, was er in dem Augenblick getan hat, als er davon erfuhr. So war das auch mit dem 4. Juli 1954. Nein, dieses Spiel ist nicht aus, es wird niemals aus sein. Dafür wird niemals mehr ein Fußballspiel eine solche Bedeutung haben, aber das ist vermutlich auch ganz gut so.