Willy Brandt verkörperte nicht den Typ des Familienmenschen, wie man ihn sich heute auch für einen Politiker wünscht. 1913 geboren, gehörte er zur „Generation der unnahbaren Väter“, wie es eine Journalistin einmal formuliert hat. Aber wenn man genauer hinsieht, relativiert sich diese Einschätzung. Brandt – als Politiker in der Welt zuhause – brachte zuhause oder im Urlaub durchaus Zeit für seine Kinder auf.

In der für ihn typischen Pose des nachdenklichen Staatsmanns: Willy Brandt, damals 55, mit seinem Sohn Matthias, damals 8, am 10. ...
In der für ihn typischen Pose des nachdenklichen Staatsmanns: Willy Brandt, damals 55, mit seinem Sohn Matthias, damals 8, am 10. Oktober 1969 vor einer Schuco-Spielzeugdampfmaschine. Brandts dritter Sohn hat am 7. Oktober Geburtstag. | Bild: imago

Matthias Brandt, bekannter Schauspieler (“Polizeiruf 110„), Buchautor und 1961 geborener dritter Sohn von Rut und Willy Brandt, hat in seine Kindheitserinnerungen „Raumpatrouille“ (2016 erschienen) stellenweise neben der öfters präsenten Mutter Rut auch den Vater eingebaut. Der hatte neben Tochter Ninja (geboren 1940) aus erster Ehe die beiden Söhne Peter (geboren 1948) und Lars (geboren 1951).

Schauspieler und Buchautor Matthias Brandt (58) im vergangenen Jahr in der Frankfurter Alten Oper.
Schauspieler und Buchautor Matthias Brandt (58) im vergangenen Jahr in der Frankfurter Alten Oper. | Bild: dpa

Matthias Brandt war also mit Abstand der Jüngste und der Einzige, der seine Kindheit in Bonn verbrachte. Das Nesthäkchen der Familie, dem der Schalk im Nacken saß und dessen Kinderzimmer einmal brannte, weil sich der Bub beruflich als Zauberer etablieren wollte.

Rut Brandt, damals 49 Jahre alt, mit ihrem jüngsten Sohn Matthias (8). Ihre Ehe wurde 1980 geschieden. Rut Brandt starb 2006 mit 86 Jahren.
Rut Brandt, damals 49 Jahre alt, mit ihrem jüngsten Sohn Matthias (8). Ihre Ehe wurde 1980 geschieden. Rut Brandt starb 2006 mit 86 Jahren. | Bild: Imago

Matthias Brandt war 8 oder 9 Jahre alt, als er den Vater – neugierig geworden – in seinem separaten Wohnbereich der Bonner Dienstvilla aufsuchte. Hier hatte Brandt zwei kleine Rückzugsräume – ein Arbeits- und ein Schlafzimmer. „Mir war dieser Teil des Hauses fremder als jeder andere“, erinnert sich der Autor.

Auf der Terrasse der Dienstvilla auf dem Bonner Venusberg im Oktober 1969: Matthias Brandt mit Kinder-Rennrad, seine Mutter Rut und ...
Auf der Terrasse der Dienstvilla auf dem Bonner Venusberg im Oktober 1969: Matthias Brandt mit Kinder-Rennrad, seine Mutter Rut und Willy Brandt. | Bild: Imago

Leise drückte er sein Ohr an die Tür. „Dass mein Vater anwesend war, merkte ich an dem Tabakrauch, der nach vorne gezogen war“, lässt Brandt junior die stille Annäherung beginnen. Der Vater war passionierter Raucher und qualmte in drei Varianten: Pfeife (damals schon seltener, weil mit Aufwand verbunden), die Besserverdiener-Zigarette „Atika“ (mit nikotinarmem Würztabak) und scharfe „Attaché“-Zigarillos, von denen Brandt trotz gelegentlicher Versuche nicht loskam.

Willy Brandt mit Zigarillo im November 1969 auf der Tribüne beim 1. FC Köln. Der gewann gegen Schalke 04 an diesem Tag mit 8:0. Links ...
Willy Brandt mit Zigarillo im November 1969 auf der Tribüne beim 1. FC Köln. Der gewann gegen Schalke 04 an diesem Tag mit 8:0. Links neben Brandt Schalke-Chef Günter Siebert und rechts Vorsitzender Maass vom 1. FC Köln. | Bild: imago

Der Sohn traf den Vater schnarchend an. Er setzte sich aufs Ledersofa und las in einem Buch. Da wachte Brandt plötzlich auf, und sein Sohn widerstand der Versuchung, wegzurennen. Dann die zaghafte Frage an den Papa: „Kannst Du mir vorlesen?“ Es blieb still. „Gekräuselte Stirn, als ob er sich bemühen müsse, die Frage zu verstehen“, erzählt der Autor.

Rotwein und Milch

Sein Vater verschwindet für längere Zeit aus dem Zimmer und kommt irgendwann mit einem Glas Rotwein und einem Glas Milch zurück. Er fragt den Sohn, an welcher Stelle im Buch er zu lesen aufgehört habe. Dann greift er das Buch und beginnt zu lesen. „Der Inhalt schien ihm zu gefallen, denn er lächelte.“ Brandt legt den linken Arm um den Buben und beginnt zu lesen. „Ich konnte kaum glauben was geschah.“

Stimme wie bei Bonanza

Der Vorleser „stellte einige, die Geschichte des Propellermanns betreffende Fragen. Als ich ihm die Zusammenhänge erklärte, lachte er.“ Der Sohn rutscht an den Vater heran, und es stellt sich Innigkeit ein. Der Jüngere betrachtet das Gesicht des Vaters: „Die großporige Haut seiner Nase wurde zur Kraterlandschaft. Irgendwo in meinem Bauch vibriert seine Stimme, die noch besser klang als die von Pa aus Bonanza. Das alles wollte ich nicht loslassen, und während ich das dachte, schlief ich ein.“

Die Kleinfamilie Brandt im Juli 1972 in den Sommerferien in Norwegen. Von links: Mutter Rut, Sohn Matthias und Vater Willy. Die Familie ...
Die Kleinfamilie Brandt im Juli 1972 in den Sommerferien in Norwegen. Von links: Mutter Rut, Sohn Matthias und Vater Willy. Die Familie besaß in der Nähe von Oslo ein Ferienhaus. | Bild: dpa

Buchtipp: Mattias Brandt. Raumpatrouille. Geschichten. Als Taschenbuch bei Kiepenheuer & Witsch, 172 Seiten, 9,99 Euro. Matthias Brandt erzählt darin 12 launige Geschichten aus seiner Kindheit in der Bonner Dienstvilla seines Vaters. Ein unterhaltsames und mit viel Humor geschriebenes Buch. Am meisten Kontur gewinnt der Vater Willy Brandt – neben der hier dargestellten Episode – im Kapitel „Welthölzer“ (damals eine weit verbreitete Streichholzmarke).

Willy Brandt (re.) und Herbert Wehner im Oktober 1972 auf dem SPD-Bundesparteitag. Knapp zwei Jahre später war es Wehner, der maßgeblich ...
Willy Brandt (re.) und Herbert Wehner im Oktober 1972 auf dem SPD-Bundesparteitag. Knapp zwei Jahre später war es Wehner, der maßgeblich für den Rücktritt von Brandt als Kanzler sorgte. | Bild: dpa

Die kleine Erzählung beschreibt den Versuch Brandts, mit SPD-Fraktionschef Herbert Wehner eine Fahrradtour durch den Wald zu machen, um das frostige Verhältnis zwischen den beiden SPD-Granden aufzutauen. Sohn Matthias hat die beiden begleitet – und wurde schließlich Zeuge eines Fiaskos.