Es gibt nur wenige Tage, die sich so tief ins Gedächtnis eingegraben haben, dass sich jeder auf Anhieb an sie erinnert. Der Tag, an dem John F. Kennedy starb, gehört in diese Reihe, ebenso der 11. September 2001 mit seinen Horror-Nachrichten aus Manhattan. Und natürlich der 9. November 1989 – die Nacht, in der die Mauer fiel.

Bild 1: Wie die SÜDKURIER-Redaktion den Mauerfall erlebte – und warum sie die Folgen falsch einschätzte
Bild: Tesche, Sabine

Nahezu jeder Deutsche über 40 kann sagen, wo er gerade war, was er machte und dachte, als ihn die unglaublich klingende Nachricht aus Berlin erreichte.

„Noch steht die Mauer“

Für die SÜDKURIER-Redaktion kam der 9. November ungelegen – was man an der Titelseite des folgenden Tages ablesen konnte. „Noch steht die Mauer“, stand da. Schwarz auf weiß. Wie das? Ich war wenige Monate zuvor zum Team der Politik-Redaktion gestoßen und erinnere mich sehr genau an diesen Tag und seine Tücken. Für mich als Neuling war es eine ungeheuer spannende Zeit: Fast täglich schwappte eine Flut von Bildern und Nachrichten aus dem untergehenden Staat des Honecker-Regimes auf unsere Schreibtische, auf der Titelseite des SÜDKURIER konnte man sehen, wie die Menschen der SED-Diktatur in Scharen davonliefen. Dass demnächst etwas Entscheidendes passieren würde, lag in der Luft.

Niemand ahnte etwas

Trotzdem ahnte am Morgen dieses Tages niemand, was am Abend geschehen würde. Wie immer lief der Fernseher in den Räumen der Politikredaktion, wie immer brachte ein Bote vom Fernschreibraum lange Papierfahnen mit den neuesten Nachrichten aus dem Ticker – kommunikationstechnisch Steinzeit; die digitale Revolution begann erst im folgenden Jahrzehnt, als die Mauer längst verschwunden war. Um 19 Uhr gebe es in Ost-Berlin eine Pressekonferenz mit möglicherweise wichtigen Neuigkeiten, hieß es plötzlich.

9. November 1989: SED-Funktionär Günter Schabowski bei seiner legendären „Unverzüglich“-Pressekonferenz in Ost-Berlin.
9. November 1989: SED-Funktionär Günter Schabowski bei seiner legendären „Unverzüglich“-Pressekonferenz in Ost-Berlin. | Bild: DPA

Alle richteten sich auf. Wenig später sahen wir Günter Schabowski über den Bildschirm flimmern, einen farblosen SED-Funktionär aus der zweiten Reihe, der die neue Ausreiseverordnung bekannt geben sollte und vor laufenden Kameras umständlich ein Manuskript aus der Tasche kramte.

„Wann tritt das in Kraft?“

Vor die Schar der wartenden Journalisten trat Schabowski, als käme er aus dem Tal der Ahnungslosen: Der SED-Mann war bei den Beratungen im Ministerrat nicht dabei und kannte somit den Wortlaut der neuen Reiseverordnung nicht. Ebenso wenig wusste er, ab wann sie gelten soll. Es kam, wie es kommen musste. „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen“, liest Schabowski vom Blatt. „Wann tritt das in Kraft?“, fragt ein Journalist ungläubig. Schabowski stottert, blättert in seinen Unterlagen, kratzt sich am Kopf. Dann folgt der entscheidende Satz: „... nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Eine Sensation – oder doch nicht?

Es war der Satz, der die Mauer niederriss, auch wenn ihn sein Urheber praktisch aus Versehen dahersagte. In der Redaktion blickten sich alle an. Was heißt das? Klar, das war es wohl mit der Mauer. Man kann rüber. Eine Sensation. Ich wurde beauftragt, Chefredakteur Gerd Appenzeller zu informieren. Er hatte einen Termin an der Universität und wusste von nichts.

Die SÜDKURIER-Redaktion zu Mauerfall-Zeiten. Zweiter von links: Chefredakteur Gerd Appenzeller, vorne neben ihm sein späterer Nachfolger ...
Die SÜDKURIER-Redaktion zu Mauerfall-Zeiten. Zweiter von links: Chefredakteur Gerd Appenzeller, vorne neben ihm sein späterer Nachfolger Werner Schwarzwälder. Hinten links Dieter Löffler. | Bild: Wulff-Seybold

Ich eilte los – Handys gab es noch nicht. Im Audimax sah ich ihn zwischen den Zuhörern sitzen und winkte ihn heraus. Augenblicklich schossen ihm Tränen in die Augen: Appenzeller, später Herausgeber des Berliner „Tagesspiegel„, stammte aus der geteilten Stadt, und man konnte ihm förmlich ansehen, welcher Film in seinem Kopf ablief. Auf der Stelle kehrte er in die Redaktion zurück.

„Alles halb so wild“

Umso überraschter war ich, ihn zwei Stunden später im Audimax wiederzusehen. Alles wohl halb so wild, beschied er mich. Gemeinsam mit Politikchef Robert Rapp hatte er die von Schabowski verkündete Reiseverordnung Punkt für Punkt analysiert und auf Fallstricke überprüft. Sie fanden sich reichlich, denn dem Regime ging es vorrangig darum, das Ausbluten des Staates zu stoppen und die Ausreisen über Ungarn und Prag in den Griff zu bekommen. Nicht nur Übersiedlungen, sondern auch Besuchsreisen in den Westen, so sagte die Neuregelung, sind künftig prinzipiell möglich. Doch hierfür braucht es einen bewilligten Antrag, ein Visum und einen Reisepass. Der Pferdefuß: Einen Pass besaß 1989 nur jeder vierte DDR-Bürger. Alle anderen säßen in diesem Fall weiter hinter der Mauer.

„Noch steht die Mauer“

So dachte es sich das Politbüro um Honecker-Nachfolger Egon Krenz, und so befürchtete es auch die SÜDKURIER-Redaktion. Folgerichtig warnte Politikchef Robert Rapp in seinem Kommentar vor Leichtgläubigkeit und versah ihn mit der Überschrift „Noch steht die Mauer“. Was nicht zu ahnen war: Die Menschen in Ost-Berlin machten sich all diese Gedanken nicht.

Wenige Stunden später: Ein DDR-Grenzsoldat versucht, den Ansturm der Bürger in geordnete Bahnen zu lenken.
Wenige Stunden später: Ein DDR-Grenzsoldat versucht, den Ansturm der Bürger in geordnete Bahnen zu lenken. | Bild: dpa

Sie hörten Schabowskis „Unverzüglich“ und kurz darauf in der Tagesschau: „Die DDR öffnet die Grenze“. Tausende machten sich auf den Weg zur Mauer. Die SED-Führung war darauf nicht vorbereitet, ebenso die Grenztruppen. Sie entschlossen sich, die Menge durchzuwinken. Nach 28 Jahren Trennung lagen sich Deutschland-Ost und Deutschland-West in den Armen. Möglich wurde es durch ein Missverständnis.

Bilder, die es ins Geschichtsbuch schafften: Jubelnde Berliner freuen sich über die Fahrt einer Trabi-Kolonne über den Grenzübergang ...
Bilder, die es ins Geschichtsbuch schafften: Jubelnde Berliner freuen sich über die Fahrt einer Trabi-Kolonne über den Grenzübergang Bornholmer Straße nach West-Berlin. | Bild: dpa

Was sich in dieser Nacht wirklich ereignet hatte, begriffen auch wir deshalb erst am nächsten Morgen. Auf der Stelle packte Politik-Kollege Wolfgang Bager seinen Koffer und entschwand nach Berlin, um für den SÜDKURIER aus einer Stadt im Ausnahmezustand zu berichten.

Seine Reportage überschrieb er mit „Wahnsinn“ – ein Wort, das sich wildfremde Menschen in jenen Tagen immer wieder zuriefen. Es brachte die Stimmung auf den Punkt. Unvergesslich.

11. November 1989: DDR-Grenzposten stehen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor und sprechen zu DDR-Bürgern, die durch die Stadt strömen.
11. November 1989: DDR-Grenzposten stehen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor und sprechen zu DDR-Bürgern, die durch die Stadt strömen. | Bild: dpa