Es ist Montag, der 5. Juli 1954. Der Morgen nach dem ersten WM-Sieg Deutschlands. Der Sportjournalist Rudi Michel, einer von vier deutschen Radio-Reportern bei der Fußball-WM in der Schweiz, packt im Quartier am Zuger See sei­nen Koffer. Urlaub soll es geben und die Vorfreude ist groß. Da klingelt das Telefon, am anderen Ende ist der Direktor des Südwestfunks, und wenig später hat Michel einen neuen Auftrag. Ein Fernseh-Interview mit Sepp Herberger, dem damaligen Erfolgs-Trainer der deutschen Nationalmannschaft, auf dem Bahnhof in Singen am Hohentwiel.

Rudi Michel vom Südwestfunk im Jahr 1976. Zu dem Zeitpunkt hatte Deutschland schon zwei Weltmeistertitel.
Rudi Michel vom Südwestfunk im Jahr 1976. Zu dem Zeitpunkt hatte Deutschland schon zwei Weltmeistertitel. | Bild: WilfriedWitters

Herberger? Interview? Singen? Am Sonntag zuvor, am 4. Juli 1954, war Deutschland in Bern Weltmeister geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte. Ein paar hunderttausend Bundesbürger hatten das Endspiel gegen Ungarn im Fernsehen gesehen, das von dem deutschen Kommentator Dr. Bernhard Ernst und dessen Schweizer Kollegen Jean-Pierre Gerwig abwechselnd kommentiert worden war, weil es für die Schweiz und Deutschland zusammen nur eine einzige Leitung gab.

Geschätzte 60 Millionen aber hatten den deutschen 3:2-Triumph am Radio verfolgt, und nach Herbert Zimmermanns finaler Satzfolge war eine ganze Nation in einen kollektiven Rausch verfallen: „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Ein Café-Besuch mit Folgen

Jetzt hat also, nur einem Tag nach dem Erfolg, hatte Rudi Michel den „Chef“ zu interviewen, wie Sepp Herber, der Vater des deutschen Fußball-Wunders, genannt wurde. Um 17.45 Uhr sollte der girlandengeschmückte Sondertriebwagen VT 08 der Deutschen Bundesbahn in Singen eintreffen, Michel ist schon „irgendwann zwischen 14 und 15 Uhr“ vor Ort, wie er 1999 sagte. Als die Kameras in Position gebracht werden, geht die SWF-Crew in ein Café, was sie besser nicht getan hätte.

Rudi Michel, 2008 im Alter von 87 Jahren verstorben, erinnerte sich 1999 so an die Szene: „Als wir zurückkamen an den Bahnhof, war alles schwarz vor Menschen, und als der Zug kam, gab es kein Halten mehr. Die Menschen rannten los, die Kameras fielen um. In meiner Not kämpfte ich mich durch die Massen bis an den Wagen, in dem Sepp Herberger war. Ich bat ihn, er solle mich doch reinlassen und bis nach Konstanz mitnehmen, um dort das Interview zu machen.“

Ein Schaffner als Endgegner

Der junge Michel genoss Sympathien bei Herberger, weil er sich bereits den Ruf eines absoluten Fachmannes erworben hatte. Doch gegen den Schaffner kam auch der der Bundestrainer nicht an. Zweimal zog Herberger Michel in den Wagen, zweimal griff der Bahnbeamte ein – „und der Schaffner gewann“. In die Waggons hinein durften nur die Suppenwürfelpakete, die mit blütenweißen Arbeitskleidern aufgeputzte Mädchen der Singener Maggi-Werke den Weltmeistern überbrachten.

Auf der Suche nach Herberger

Wenig später saß Rudi Michel in einem VW Käfer und fuhr nach Konstanz, wo er die nächste böse Überraschung erlebte. „Als ich in die Stadt fahren wollte, hielt mich ein Polizist an. Ich sagte ihm, ich sei vom Südwestfunk und müsse unbedingt ein Interview mit Sepp Herberger machen, doch der Polizist sagte nur: ‚So, so, ich auch.‘ Dann habe ich geparkt, bin gerannt – und am Bahnhof vor lauter Menschen nicht mehr auf den Bahnsteig gekommen.“ In Jürgen Leimanns Buch „Sepp Herberger – ein Leben, eine Legende“, ist Rudi Michels Missgeschick verewigt. „Wo ischt denn der Herberger? Wo ischt denn der Herberger?“, soll der Journalist verzweifelt gerufen haben.

Letzte Chance Lindau

Auf dem Weg nach München war Lindau des Reporters letzte Chance – im wahrsten Sinne des Wortes. „Das sage ich ihnen, wenn sie ohne Interview zurückkommen, sind Sie entlassen.“ Rudi Michel hatte den Satz seines SWF-Direktors nie vergessen, „und so stand ich schon um acht Uhr am anderen Morgen vor dem Hotel Reutemann in Lindau, wo die Mannschaft übernachtet hatte. Der Fritz (Walter, Anm. d. R.) riss das Fenster auf und schimpfte: ‚was willst Du schon wieder, verschwinde‘, doch einige Stunden später hatte ich endlich mein Interview.“

Zwei Tage Bearbeitungsdauer

Es dauerte zwei Tage, bis das aufgenommene Gespräch technisch bearbeitet war und gesendet werden konnte. „Aber die Leute haben es trotzdem geschaut“, erzählt Rudi Michel, „und da habe auch ich dann so langsam realisiert, wie viel der WM-Titel von Bern den Menschen bedeutete.“ Ein Tadel seiner Oma blieb ihm aber nicht erspart. „Du freust dich ja gar nicht richtig, hat sie mir einen Rüffel erteilt“, sagte Michel damals, „aber da hab ich ihr gesagt: Der Chronist hat sich nach innen zu freuen.“

Der SWF-Direktor war damals zufrieden und der rasende Reporter Rudi Michel durfte bleiben. Es sollte sich als Glücksfall erweisen – für den Südwestfunk und den deutschen Sportjournalismus überhaupt.